La Boum:Die Stille vor dem Schreiben

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(Foto: Steffen Mackert)

Unsere Kolumnistin besucht eine Literaturdiskussion. Es soll ein Debattenabend über Europa werden. Der Krieg will es anders.

Von Nadia Pantel

Alles im Hotel de la Marine ist beeindruckend. Die Lage direkt an der Place de la Concorde, der Blick auf den Eiffelturm, die Kronleuchter, die so groß sind, dass man fast darin einziehen könnte. Und fast alles an diesem Dekor fühlt sich an diesem Abend falsch an. Vorne vor den Gästen sitzt der Schriftsteller Olivier Guez, der an diesem Abend einen Sammelband vorstellt. 27 europäische Autorinnen und Autoren haben Erzählungen beigesteuert, aus jedem EU-Mitgliedsstaat eine. "Dies hätte ein Abend der Freude werden sollen", sagt Guez. "Putin hat es anders entschieden." Der russische Angriff auf die Ukraine ist keine Woche her.

Sie wollten an diesem Abend über Literatur sprechen, darüber, welche Erzählungen Europa zusammenhalten. Der Europastaatssekretär ist gekommen, die Kulturministerin auch. Und nun sitzen sie betreten vor den goldenen Wänden, vom Krieg überholt. Sie sagen, es müsse natürlich gerade jetzt um das Große, Schöne, Wahre gehen. Sie sagen es zögerlich, weil auf ihre Handys stündlich Bilder von Panzern, Toten und weinenden Kindern geschickt werden, und weil Hirn und Herz vielleicht gar nicht wirklich wissen, wo sie gerade sind in diesem Moment. Hier, bei diesem pompösen Empfang in Paris oder dort, in Kiew, wo Menschen in den Metro-Stationen nicht mehr auf den nächsten Zug warten, sondern ihr Leben schützen.

Ich höre zu, ich mache Notizen, einer zitiert Churchill, vorm Fenster gehen die Lichter des Eiffelturms an. Und dann bekommt Michal Hvorecky das Mikrofon. Hvorecky ist Slowake, er lebt in Bratislava. Und ich glaube, es liegt daran, dass er die entscheidenden 1300 Kilometer weiter östlich zu Hause ist, dass er Worte findet, die alle aufwachen lassen. Von Bratislava fährt man sechs Stunden bis zur ukrainischen Grenze. Ich weiß nicht mehr genau, was Hvorecky als aller erstes gesagt hat, in meiner Erinnerung ist es einfach nur: Nein. Ein entschuldigendes, aber bestimmtes Nein. Er sagt es zu der Moderatorin des Abends, die ihn fragt, ob er über die europäischen Romane sprechen könne, die man zurzeit lesen solle. Nein, sagt Hvorecky, das kann er nicht. Und: "Die letzte Woche hat mich sehr still werden lassen."

Alles passiere gerade viel schneller, als man schreiben könne, sagt Hvorecky. Er meint ein Schreiben, das Nachdenken und Verstehen voraussetzt. Etwas, das dem Gesehenen etwas hinzufügen könnte. Aber was sollte man in diesen Tagen dem Horror hinzufügen wollen? Ein paar Stühle von ihm entfernt sitzt die polnische Autorin Agata Tuszyńska. Genau wie Hovercky ist sie extra für diesen Abend nach Paris gereist, der eigentlich eine beschwingte Begegnung werden sollte. Nun sagt sie einfach: "Ich will nicht von Hoffnung sprechen, denn ich sehe keine." Was man jetzt lesen solle? "Die Berichte der Zeugen lesen, die Berichte der Zeugen aufschreiben, das schulden wir uns allen." Es ist die Stunde des Schreibens, das noch nichts hinzufügen kann.

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