La Boum:Viech auf Rollen

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(Foto: Steffen Mackert)

Unsere Kolumnistin aus Paris denkt über Drachen, Palmen und das Phänomen der Selbsttäuschung nach.

Von Nadia Pantel

Zu den Dingen, die mich immer wieder erstaunen, gehört die Tatsache, dass man innerhalb von zwei Stunden und 26 Minuten von Paris nach London kommen kann. In Paris in den Zug einsteigen, zack unterm Ärmelkanal durch, schon ist man da. Ich habe es noch nie selbst ausprobiert, aber so wurde es mir erzählt. Erstaunlich an dieser geographischen Nähe ist auch, dass sie so wenig Einfluss auf Paris' Image hat.

Paris ist es irgendwie gelungen, sich wettermäßig an Südfrankreich anzuschließen. Von diesem Trick profitiert man überhaupt nicht, wenn man in Paris wohnt, weil er eine Lüge ist. Aber ich kann an den viel zu leichten Sommerhemdchen unserer Besucher ablesen, dass sie Paris komplett auf den Leim gegangen sind. Ständig verleiht man den Gästen Regenschirme, ständig kauft man neue nach und irgendwo am Louvre entsteht ein größer Hügel aus Metall und Plastik, weil man Regenschirme immer für den Hin- und selten für den Rückweg braucht.

Es liegt nur zum einen an dem enormen Morsch der Pariser Dächer, dass wir jetzt schon zum zweiten Mal in einer Wohnung leben, in die es reintropft. Schuld ist auch der ständige Regen. Am Anfang hielt ich es noch für modische Spleenigkeit, dass manche Pariser Frauen an grauen Tagen Gummistiefel tragen. Inzwischen weiß ich, dass es einfach ein Anerkennen der Realität ist.

Um von der Not abzulenken, hat Calais einen Drachen bauen lassen

Als ich dem Regen einmal entgegen fuhr, Richtung englische Küste, hielt ich in Calais. Es war kurz vor Weihnachten und es tropfte auf die festliche Beleuchtung. Es tropfte auch auf all die kleinen Zelte, die versteckt hinter Parkhäusern und Lagerhallen standen. Calais ist ein Ort, an dem Träume enden. Hier sammeln sich diejenigen, die aus ihren Heimatländern in die EU geflohen sind, und die nun weiter nach England wollen, weil sie dort auf einen Neuanfang hoffen. Um von der Not abzulenken, hat Calais sich einen riesigen Drachen bauen lassen. Wirklich. Das Viech ist auf Rollen unterwegs und so groß wie ein dreistöckiges Haus. Für 9,50 Euro darf man auf den Drachen klettern und mit ihm eine Runde drehen. Weil er sich in der Stadt freier bewegen darf als die Geflüchteten, wurde dem Drachen die Busspur reserviert. Er kann Feuer spucken und auf seinem Rücken stehen Männer mit Fernbedienungen, die seine roten Augen und sein krokodilartiges Maul steuern.

Calais ist also eine Stadt, in der Straßen hinter doppelten Zaunreihen verlaufen und in der Tankstellen mit drei Meter hohen Mauern gesichert sind, damit ja kein Geflüchteter in einen Lastwagen klettern kann. Und eine Stadt, in der ein Drache unterwegs ist, damit der ganze Stacheldraht nicht so auffällt. Im Vergleich ist da die Pariser Selbsttäuschung doch recht harmlos. Nein, hier ist nicht die Côte d'Azur, aber immerhin stehen in den Parks manchmal Palmen herum und die mühsam gepflegte Bananenstaude unseres Nachbarn ist auch noch nicht eingegangen.

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