Kolumne: Vor Gericht:Schuldig wegen zweier Wörter

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Mit einem Transparent fordern Demonstrantinnen im November 2017 vor dem Amtsgericht die Abschaffung von Paragraf 219a. (Foto: Boris Roessler/dpa)

Nicht immer geht die Rechtsprechung mit der Zeit: 2019 wurde eine Berliner Frauenärztin verurteilt, weil sie dafür geworben hatte, Abtreibungen vorzunehmen.

Von Verena Mayer

Es kommt äußerst selten vor, dass Richterinnen oder Richter Zweifel an ihren Urteilen äußern. Wenn sie es tun, dann meistens, weil das Recht, das sie vertreten, von der gesellschaftlichen Wirklichkeit überholt wurde. So war es im Verfahren gegen eine Ärztin, das ich 2019 vor dem Amtsgericht in Berlin verfolgt habe. Die Gynäkologin saß auf der Anklagebank, weil sie etwas auf den ersten Blick Selbstverständliches getan hatte: Sie hatte Patientinnen über die Leistung informiert, die sie anbietet. Und darüber, wie sie diese in ihrer Praxis durchführt.

Die Leistung aber war ein Schwangerschaftsabbruch. Den durfte die Ärztin zwar straffrei ausführen, und sie durfte auch Patientinnen darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornimmt. Strafbar war allerdings die Art, wie sie informierte. Die Frau hatte auf ihrer Website geschrieben, dass in ihrer Praxis „ein medikamentöser, narkosefreier Schwangerschaftsabbruch in geschützter Atmosphäre“ möglich sei.

Das verstieß damals gegen den Paragrafen 219a, demzufolge man nicht für Abtreibungen werben darf. Der Paragraf war ein Relikt aus der NS-Zeit und stand schon lange in der Kritik. Als die Gynäkologin vor Gericht saß, war er bereits abgemildert worden; Krankenhäuser, Ärztinnen und Ärzte durften darauf hinweisen, dass sie Schwangerschaftsabbrüche machen. Aber sie durften eben nur darauf hinweisen und nicht aus wirtschaftlichen Interessen oder „grob anstößig“ dafür werben. Das aber hatte die Berliner Frauenärztin der Anklageschrift zufolge mit den Wörtern „medikamentös“ und „narkosefrei“ getan. Weswegen ihr bis zu zwei Jahre Haft drohten.

2022 wurde der Paragraf 219a vom Bundestag ersatzlos gestrichen. Drei Jahre zuvor landete die Gynäkologin, die in einem Bewertungsportal als „Top-Ärztin“ und „sehr kompetent“ beschrieben wurde, in jenem Raum zwischen gesellschaftlichem Wandel und politischer Diskussion, in dem noch bestehendes Recht umgesetzt werden muss.

Vor Gericht war die Stimmung aufgeheizt, was am Thema und der Demonstration zur Abschaffung des Paragrafen 219a lag, die vor dem Amtsgericht stattfand. Und wahrscheinlich auch daran, dass allen im Saal klar war, dass hier wegen eines Paragrafen geurteilt wird, der schon bald Geschichte sein könnte. Nicht zuletzt der Richterin, die die ganze Sache „als nicht sehr strafwürdig“ einschätzte. Aber vor Gericht würden nun mal Gesetze angewandt, und „wenn man Gesetze auslegt, muss man sehen, was wollte der Gesetzgeber“, sagte sie. Sie verurteilte die Angeklagte zu einer Geldstrafe von 2000 Euro. Wegen einer Straftat, die heute keine mehr ist. Und doch ist dieser Fall alles andere als historisch. In einer Zeit, in der das Recht auf Abtreibung selbst in der westlichen Welt zunehmend infrage gestellt wird, hat das Ringen darum etwas erschreckend Aktuelles.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker (Illustration))
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