Süddeutsche Zeitung

Paartherapeut über die ewige Liebe:"Paare sollten akzeptieren, was ihnen widerfährt"

Lesezeit: 7 min

Was "resignative Reife", ein Bildhauer und ein "flotter Dreier" mit dem Therapeuten in einer Beziehung verloren haben: Ein Gespräch mit dem Paartherapeuten Arnold Retzer über Illusion und Wirklichkeit in modernen Beziehungen.

Martin Wittmann

SZ: Herr Retzer, wie steht es um die ewige Liebe?

Arnold Retzer: Die Vorstellung, auf ewig zusammenzubleiben, hat sich nicht groß verändert in den vergangenen 200 Jahren, also seit es eine bewusste Entscheidung zur Partnerschaft gibt und nicht arrangiert geheiratet wird. Die Bedingungen für dieses Zusammensein aber sind andere, schon allein, weil man durch die Zunahme der Lebenserwartung geradezu gezwungen ist, länger als früher zusammen zu sein.

SZ: Aber sind nicht auch die Beziehungen an sich anders als früher?

Retzer: Die Ansprüche, was eine Beziehung, Partnerschaft oder Ehe zu leisten hat, haben sich massiv verändert. Sie sind gewachsen parallel zu Anzahl anderer Beziehungen, also zu Kollegen, Freunden, Kunden, Mitschülern. Alles, was man in diesen vielen funktionalen Sozialsystemen nicht mehr bekommt, sucht man nun in der Zweierbeziehung. Nur dort kann man ungehemmt kommunizieren.

SZ: Die Beziehung als Oase?

Retzer: Sie ist ein Ort, wo wir den Partner mit allem, was durch unsere Synapsen streicht, belästigen können. Und gleichzeitig habe ich die Pflicht, für alles, was der andere mir zumutet, ein Gehör zu haben. Das aber überfordert und überfrachtet die Liebesbeziehung.

SZ: Diese vielen neuen Sozialsysteme bedeuten auch mehr Wahlfreiheit, oder?

Retzer: Die Illusion der Freiheit hat tatsächlich zugenommen, also die Vorstellung, wir könnten alles Mögliche erreichen, das Schönste, das Beste. Ein Ausdruck dafür sind die Partnerbörsen, die es überall gibt. Sie schüren die Illusion, man könnte mit der richtigen mathematischen Formel die maximierte, optimale Paarbeziehung erreichen. Früher musste man nehmen, was im Nahbereich auf einen zukam.

SZ: Warum trennen sich beziehungsmüde Menschen in unserer Leistungsgesellschaft nicht einfach und suchen sich was Besseres?

Retzer: Weil es die Vorstellung gibt, es könnte noch was zu machen sein mit dem Partner. Schließlich hat man, ökonomisch betrachtet, etwas in ihn investiert. Zeit, Emotion, vielleicht auch Geld. Paartherapie ist unter diesen Umständen Teil einer Optimierungsillusion. Man will die Beziehung runderneuern, oder noch häufiger: den Partner runderneuern lassen, zur Herstellung des Maximums.

SZ: I hre Klienten kommen zu Ihnen, damit sich was ändert an ihrer Beziehung, das ist doch nachvollziehbar.

Retzer: Aber in Wirklichkeit ist es meist so, dass sich schon etwas in der Beziehung verändert hat und diese Veränderung mit der Therapie rückgängig gemacht werden soll. Der ursprüngliche Zustand soll per Reparatur wiederhergestellt werden. Dabei hat die Paartherapie den Auftrag, die Paare mit dem notwendigen Scheitern dieser Illusionen zu konfrontieren.

SZ: Mein Gott, Sie zeichnen ja ein schreckliches Bild unserer heutigen Lebenswelt.

Retzer: Dabei ist es keineswegs so, dass früher alles besser gewesen wäre. Ich glaube, mit so einer absoluten Feststellung sind wir auf dem Holzweg. Denn trotz all der Scheidungs- und Trennungsstatistiken gab es noch nie in der Geschichte so viele Menschen, die mit ein und demselben Partner so lange zusammenleben wie heute. 60 Prozent aller Deutschen leben in einer eheähnlichen Partnerschaft. Und 60 Prozent von denen mehr als 45 Jahren. Da stellt sich die Frage: Was machen die richtig?

SZ: Sagen Sie's uns.

Retzer: Sie gehen mit Veränderungen klug und vernünftig um. Ich nenne das die Widerfahrniskompetenz. Das ist auch mein Ziel bei der Paartherapie: Die Klienten sollten nicht die Maximierung, nicht die Optimierung suchen, sondern akzeptieren, was ihnen widerfährt.

SZ: Sie geben sich dem Schicksal hin?

Retzer: Nicht nur dem Schicksal, sondern auch Partner und Beziehung. Das ist nicht so einfach in Zeiten, in denen man für sein Glück selbst verantwortlich ist, in denen man was aus seinem Leben machen muss, in denen jeder eine Ich-AG ist.

SZ: Man sollte anspruchloser sein?

Retzer: Stellen Sie sich eine Beziehung als Kunstwerk vor, das auf zwei Wege entstehen kann. Bei dem einen malt ein Maler seine Vorstellung auf eine weiße Leinwand. Bei dem anderen haut ein Bildhauer Stücke aus einem Marmorblock. Aus meiner Sicht ist eine erfolgreiche Paarbeziehung mit der zweiten Form zu vergleichen. Das Hinzufügen von Ansprüchen und Vorstellungen klappt nicht so gut wie das Weglassen.

SZ: Ist das der Schlüssel zum Glück: akzeptieren, dass die Beziehung sich ändert, und gleichzeitig die Hoffnung aufgeben, dass der Partner sich ändert?

Retzer: Ein Beispiel: Eine Frau heiratet ihren Freund. Ganz netter Kerl. Bei der Hochzeit sagt sie: Die zwei, drei Macken, die er hat, die krieg ich auch noch hin. Sie meint: Den krieg ich auch noch hin. Dann gehen, wenn man Glück hat, zehn Jahre ins Land und der Partner, fast hätte ich gesagt: der Gegner, hat die Macken mindestens in der gleichen Ausführung wie am Hochzeitstag. Weil der Mann diese Veränderungsmaßnahmen als Angriff auf seinen Lebensstil, auf seine Wertvorstellungen, auf sich bezieht. Menschen reagieren auf Angriff nun mal mit Verteidigung. Das Ergebnis ist eine paradoxe Situation: Je mehr man versucht, den Partner zu ändern, desto weniger verändert der sich. Man kann soweit gehen und sagen: wenn man nicht mehr versucht, den anderen zu ändern, dann verändert er sich.

SZ: Und der erfahrene Bildhauer haut den fatalen Veränderungswunsch einfach weg.

Retzer: Genau. Ich nenne das die resignative Reife.

SZ: Ich nenne das einen Freifahrtschein.

Retzer: Der Einwand ist durchaus berechtigt. Meine Überlegung ist tatsächlich riskant. Aber so ist das Leben nun mal, es gibt keine Sicherheit, ob das Durchkämpfen der eigenen Interessen zum Sieg verhilft oder das Aufgeben derselben. Es bleibt nur, sich anzuschauen, mit welcher Strategie man welche Erfahrung gemacht hat, mit welchem Ergebnis.

SZ: Aber man müsse sich doch zurücknehmen in einer Beziehung und an ihr stetig arbeiten, heißt es immer. Ein Trugschluss?

Retzer: Zumindest in der Eindeutigkeit, die schon das Wort "müssen" vermittelt. Das heißt nicht, dass Arbeit nicht sein darf. Der Radikalität aber von "Arbeit muss sein" würde ich auf jeden Fall widersprechen. Wenn man das hört, kriegt man ja richtig Lust, faul zu sein.

SZ: Sich bemühen ist doch auch ein Liebesbeweis.

Retzer: Wenn es von einem selbst und nicht vom Partner initiiert ist, ist das Bemühen auch in Ordnung.

SZ: So lautet der Rat an jeden Single: Heirate nur jemanden, an dessen Macken du dich gewöhnen kannst, den ändern wird er sich nie.

Retzer: Hört sich gut an, klingt vernünftig. Ist in der Praxis aber unmöglich. Es ist eben nötig, aus den eigenen Fehlern zu lernen. Das Schlimmste, was ich mir vorstellen könnte, wäre eine Null-Fehler-Kultur. Da wird man nämlich saublöd dabei.

SZ: Ganz anderes Thema: die Liebe.

Retzer: Ich unterscheide radikal zwischen Partnerschaft und Liebesbeziehung. Wie gesagt, das wichtigste Kriterium für eine Liebesbeziehung ist, dass darin auf eine unzensierte, ungefilterte Art kommuniziert wird. Ich nenne das die Exklusivität: Strikte Abgrenzung nach außen, Freiheit nach innen. Etwas Drittes gehört nicht dazu. So ist es gewünscht, in der Liebeslyrik beschrieben, ein Ideal.

SZ: Aber?

Retzer: Mit der Organisation des alltäglichen Lebens ist das nicht vereinbar. Ein Paar merkt das spätestens nach der Geburt des ersten Kindes. Dann kann es nicht mehr um das ungehemmte Miteinander und um Exklusivität gehen, sondern darum, irgendwie über die Runden zu kommen - wie schlafen wir, wie arbeiten wir. Und der Partner schläft dann beim exklusiven Liebesdiskurs ein. Oder noch schlimmer: Die Männer werden eifersüchtig, weil da jemand dritter den Partner samt dessen Körper in Beschlag genommen hat.

SZ: Was raten Sie in so einem Fall?

Retzer: Wenn so ein Paar zur Therapie kommt, wäre es ein Fehler, die Liebe zu betonen. Die sollte das Paar stattdessen auf Eis legen und auf eine Partnerschaft übergehen. Darunter verstehe ich ein abgekühltes Organisationssystem. Da geht es um Vertragstreue, Gerechtigkeit, Verhandlungen um Rechte und Pflichten.

SZ: Äußerst unromantisch.

Retzer: Stimmt, auch diese Partnerschaft funktioniert nicht auf Dauer. Da kommen Paare, die alles geregelt haben. Kapital ist kumuliert, die Kinder laufen schon, das Haus ist fertig. Als Team funktionieren wir prächtig, sagen sie dann, aber man spürt die Verzweiflung im Raum. Irgendwann muss die Ressource der Liebe wieder ins Spiel kommen.

SZ: Wie helfen Sie dabei?

Retzer: Indem ich sie frage, wie sie sich kennengelernt haben. Ich frage nach schönen Erinnerungen. Der Liebesmythos vom Beginn der Beziehung muss reaktiviert werden.

SZ: Klappt das?

Retzer: Wenn es Gesichtsverlust und Scham nicht unmöglich machen, an die guten, alten Zeiten anzuknüpfen, schon.

SZ: Wie oft merken Paare während der Therapie, dass ihre Beziehung doch keinen Sinn mehr macht?

Retzer: Vielleicht maximal ein Viertel meiner Klienten. Die Tatsache, sich zu einer Paartherapie durchzuringen, ist prognostisch schon ein gutes Zeichen.

SZ: Obwohl man dabei ja ebenjene Exklusivität aufgibt, die eine Beziehung mit ausmacht.

Retzer: Genau. Und hier beginnt die Kunst der Paartherapie. Wie muss ein Therapeut sich verhalten, dass er sich nicht zu pflegeleicht einklinkt in eine Beziehung und daraus einen flotten Dreier macht?

SZ: Ja, wie?

Retzer: Indem er sich so früh wie möglich wieder verabschiedet. Ich pflege dazu die lange Kurztherapie: relativ kurz, was die Anzahl der Sitzung betrifft, dazwischen lange Intervalle, so dass es nicht zur Illusion kommt, ich sei ein Bestandteil der Beziehung geworden oder gar notwendig.

SZ: Kommen die Partner immer mit einer gemeinsamen Motivation zu Ihnen?

Retzer: Die Ziele sind nicht immer deckungsgleich. Manchmal ist die Sitzung eine moralische Unkostenreduktionsveranstaltung, das heißt, einer will die Beziehung beenden, aber statt zu sagen "Ich verlasse dich" und damit die Schuld auf sich zu nehmen, schlägt er eine Paartherapie vor. Da kommt zwar nix raus, aber er kann beruhigt sagen: An mir hat's nicht gelegen.

SZ: Unterscheiden sich die Geschlechter bei der Konfliktbewältigung?

Retzer: Absolut. Vielen Männer fällt noch nicht mal auf, dass etwas nicht stimmt, oder um es mit Karl Valentin zu sagen: Das ignorieren wir nicht einmal. Die meisten Paartherapien gehen deshalb von den Frauen aus.

SZ: Welche Rolle spielt Sex bei Ihren Klienten?

Retzer: Sex ist heute ja fast Leistungssport, den man betreiben muss, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Früher suchte man medizinische Hilfe bei vorzeitigem Samenerguss und bei Scheidenkrämpfen. Heute ist der Hit unter den Beschwerden die Lustlosigkeit.

SZ: Wie erklären Sie sich das?

Retzer: Mit dem Anspruch, in der Partnerschaft und noch im hohen Alter die optimale Sexualität leben zu müssen. Man vergleicht sich mit den vorgegebene Idealvorstellungen und denkt sich: Eigentlich sollte ich ganz anders sein. Man gerät in eine Situation, die man als defizitär erlebt. Und wer muss, der kann dann nicht.

SZ: Was sagen Sie diesen Klienten?

Retzer: Ich verschreiben jedenfalls keine Übungen. Da reicht es, einfache Informationen zu geben. Dass es etwa nichts Krankhaftes oder Ausdruck einer gestörten Beziehung ist, wenn im Alter die Sexfrequenz nachlässt. Das ist normal und nichts Schlimmes.

SZ: Und wenn die Lust da ist, aber von jemandem außerhalb der Beziehung gestillt wird?

Retzer: Fremdgehen ist immer noch ein großes Thema, da hat sich nicht viel geändert, trotz aller Liberalität und Offenheit der Postmoderne. Sexuelle Untreue bleibt der Anlass Nummer eins für viele Paare, die Beziehung in Frage zu stellen - oder sich gleich zu trennen.

[] Arnold Retzer ist Diplompsychologe und Privatdozent an der Universität Heidelberg. Im S. Fischer Verlag ist sein Buch erschienen: Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe.

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