SZ: Wie oft merken Paare während der Therapie, dass ihre Beziehung doch keinen Sinn mehr macht?
Retzer: Vielleicht maximal ein Viertel meiner Klienten. Die Tatsache, sich zu einer Paartherapie durchzuringen, ist prognostisch schon ein gutes Zeichen.
SZ: Obwohl man dabei ja ebenjene Exklusivität aufgibt, die eine Beziehung mit ausmacht.
Retzer: Genau. Und hier beginnt die Kunst der Paartherapie. Wie muss ein Therapeut sich verhalten, dass er sich nicht zu pflegeleicht einklinkt in eine Beziehung und daraus einen flotten Dreier macht?
SZ: Ja, wie?
Retzer: Indem er sich so früh wie möglich wieder verabschiedet. Ich pflege dazu die lange Kurztherapie: relativ kurz, was die Anzahl der Sitzung betrifft, dazwischen lange Intervalle, so dass es nicht zur Illusion kommt, ich sei ein Bestandteil der Beziehung geworden oder gar notwendig.
SZ: Kommen die Partner immer mit einer gemeinsamen Motivation zu Ihnen?
Retzer: Die Ziele sind nicht immer deckungsgleich. Manchmal ist die Sitzung eine moralische Unkostenreduktionsveranstaltung, das heißt, einer will die Beziehung beenden, aber statt zu sagen "Ich verlasse dich" und damit die Schuld auf sich zu nehmen, schlägt er eine Paartherapie vor. Da kommt zwar nix raus, aber er kann beruhigt sagen: An mir hat's nicht gelegen.
SZ: Unterscheiden sich die Geschlechter bei der Konfliktbewältigung?
Retzer: Absolut. Vielen Männer fällt noch nicht mal auf, dass etwas nicht stimmt, oder um es mit Karl Valentin zu sagen: Das ignorieren wir nicht einmal. Die meisten Paartherapien gehen deshalb von den Frauen aus.
SZ: Welche Rolle spielt Sex bei Ihren Klienten?
Retzer: Sex ist heute ja fast Leistungssport, den man betreiben muss, um auf der Höhe der Zeit zu sein. Früher suchte man medizinische Hilfe bei vorzeitigem Samenerguss und bei Scheidenkrämpfen. Heute ist der Hit unter den Beschwerden die Lustlosigkeit.
SZ: Wie erklären Sie sich das?
Retzer: Mit dem Anspruch, in der Partnerschaft und noch im hohen Alter die optimale Sexualität leben zu müssen. Man vergleicht sich mit den vorgegebene Idealvorstellungen und denkt sich: Eigentlich sollte ich ganz anders sein. Man gerät in eine Situation, die man als defizitär erlebt. Und wer muss, der kann dann nicht.
SZ: Was sagen Sie diesen Klienten?
Retzer: Ich verschreiben jedenfalls keine Übungen. Da reicht es, einfache Informationen zu geben. Dass es etwa nichts Krankhaftes oder Ausdruck einer gestörten Beziehung ist, wenn im Alter die Sexfrequenz nachlässt. Das ist normal und nichts Schlimmes.
SZ: Und wenn die Lust da ist, aber von jemandem außerhalb der Beziehung gestillt wird?
Retzer: Fremdgehen ist immer noch ein großes Thema, da hat sich nicht viel geändert, trotz aller Liberalität und Offenheit der Postmoderne. Sexuelle Untreue bleibt der Anlass Nummer eins für viele Paare, die Beziehung in Frage zu stellen - oder sich gleich zu trennen.
[] Arnold Retzer ist Diplompsychologe und Privatdozent an der Universität Heidelberg. Im S. Fischer Verlag ist sein Buch erschienen: Lob der Vernunftehe. Eine Streitschrift für mehr Realismus in der Liebe.