Outsider Art:Irre angesagt

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Künstler schwanken oft zwischen Genie und Wahn, diese sind noch ein bisschen verrückter: Die Galerie Art Cru zeigt "Outsider Art".

Von Ruth Schneeberger, Berlin

Der kleine Vincent war schon in jungen Jahren ein Eigenbrötler. Später schmeißt er die Schule, auch im Berufs- und Liebesleben will ihm nichts gelingen. Er vernachlässigt sein Äußeres und lebt in ärmlichen Verhältnissen. Viele halten ihn für einen Verrückten.

Vincent leidet unter Wahnvorstellungen und Depressionen. Die Nachbarn lassen ihn zwangseinweisen, später geht er freiwillig in eine Nervenheilanstalt. Mit der Familie häufen sich die Schwierigkeiten. Das liegt auch an einem abgeschnittenen Ohrläppchen. Mit 37 Jahren soll er sich eine Kugel in die Brust geschossen haben.

Vincent hinterlässt Hunderte von Bildern mit sonderbaren Motiven: Sonnenblumen, Felder, Nachtlandschaften und Portraits - alles wirkt so seltsam dunstig, gar nicht üblich für die im 19. Jahrhundert noch übliche fotorealistische Malerei.

Äußerlich gestört, innerlich hochbegabt

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Die Rede ist von Vincent van Gogh, dessen Nachlass wesentlich bekannter ist als sein beschwerliches Leben. Heute gilt der niederländische Künstler als Begründer der modernen Malerei. Seine Bilder erzielen seit den 1980er Jahren Rekordpreise in vielfacher Millionenhöhe.

Davon sind die meisten seiner Nachfolger weit entfernt, doch immerhin: Sie werden jetzt langsam entdeckt - auch in Deutschland. Es hat lange gedauert, bis sich der Umgang mit Behinderten und geistig Beeinträchtigten in diesem Land auch nur ansatzweise normalisiert. Dass ihnen darüberhinaus eine Leistung, gar eine künstlerische, zugetraut wird, das entwickelt sich gerade erst - trotz des prominenten Vorbilds van Gogh, der unter diversen Störungen litt.

Eine Vorreiterin dieser Kunstbewegung ist die Galerie Art Cru in Berlin, die sich der Verbreitung sogenannter Außenseiter-Kunst verschrieben hat.

An den Wänden der Galerie in einem schmucken Hinterhof in Mitte ist derzeit das kraftvolle Werk des Künstlers Abram Wilhelm ausgestellt; die Schau wurde des Erfolges wegen verlängert. Wilhelm hat keine Scheu vor der Darstellung weiblicher Geschlechtsteile und zeigt in Bildern wie Skulpturen auch schon mal feurige Fehlgeburten, nicht ohne Humor.

Wenn die Galeristin Alexandra von Gersdorff-Bultmann Besucher empfängt, sagt sie mit ihrem kaum noch hörbaren schwedischen Akzent: "Guten Tag, ich grüße Sie - wir sind eine spezielle Galerie." Manche sind dann noch neugieriger auf die Kunst, die meisten wissen schon Bescheid, aber es gibt immer noch ein paar, die sich empört auf dem Absatz umdrehen. Denn sowas kann doch keine echte Kunst sein?

Von Gersdorff-Bultmann ist überzeugt: Diese Art von Kunst ist sogar noch echter als die übliche. Weil ihre Künstler gar nicht anders können als sich mit Kunst auszudrücken. Den einen fehlt die Sprache, anderen das Gehör, manchen der Verstand. Das macht ihren Pinsel, die Leinwand, die Schuhkartons oder was auch immer sie als Materialien nutzen, für die Künstler umso wichtiger als Kommunikationsmittel mit der Außen- und Innenwelt.

"Outsider Art" nennt sich diese Kunst, die außerhalb Deutschlands schon länger bekannt und zunehmend erfolgreich ist. In Deutschland ist es vor allem Alexandra von Gersdorff-Bultmann, die sie vorangetrieben hat. Mit der ersten deutschen Outsider-Art-Galerie, die sie seit 2008 betreibt. Und indem sie die sogenannte Außenseiter-Kunst über Jahrzehnte in Berlin entwickelt hat.

Picasso - von Außenseiter-Kunst inspiriert

Angefangen hat alles in München, wo die in Schweden aufgewachsene von Gersdorff-Bultmann Kunst studiert hat. Weiter ging es ins wilde Berlin der 70er Jahre, da gab es viel zu protestieren. Dann erkannte die Künstlerin, dass sie einen Brotjob erlernen muss, um Geld zu verdienen. Also wurde sie Ergotherapeutin, bald darauf leitete sie die Ergotherapie-Abteilung einer Klinik. Mit den Patienten immer nur zu basteln, wie es damals noch üblich war, wurde ihr bald zu wenig. Als sie eine Ausstellung des französischen Künstlers und Sammlers Jean Debuffet sah, der die Arbeiten Behinderter ganz selbstverständlich neben den Bildern berühmter Künstler ausstellte, "da merkte ich, wer hier von wem sich hat inspirieren lassen".

Soll heißen: Picasso hat von Außenseiter-Künstlern abgemalt - und nicht umgekehrt. Oder sich zumindest von der sehr ursprünglichen Kraft dieser oft inselbegabten Künstler beeinflussen lassen.

Da wusste von Gersdorff-Bultmann: Das muss ich auch machen. Psychisch Erkrankte und geistig Behinderte in ihren kreativen Fähigkeiten fördern. Die Ausstellungen waren von Anfang an erfolgreich - und so wurde ihr das Projekt am Ende geradezu aus den Händen gerissen. "Das war ein tolles Gefühl", sagt sie heute.

Fortan konzentrierte sie sich auf die Galerie, die es aufzubauen galt. 2008 eröffnete Art Cru, unterstützt von einem eigens dafür gegründeten Verein, dem 21 sozial tätige Vereine als Mitglieder angehören.

Abram Wilhelm etwa, der aktuell ausgestellte Künstler, stammt aus Amsterdam. Dort musste er nach dem Krieg mit seinen Geschwistern für den Unterhalt der Familie sorgen, so dass er nur zwei Jahre lang zur Schule gehen konnte. Sein Vater hatte mit den Deutschen kollaboriert. Als Kind mehrfach sexuell missbraucht, machte er sich als 21-Jähriger mit dem Mofa und Holzschuhen auf ins Schwabenland, wo er seit 50 Jahren lebt. Ein paar glückliche Jahre waren ihm beschieden, als er eine Frau kennenlernte und eine Familie gründete. Doch nach der Geburt des dritten Kindes wurde seine Frau depressiv und nahm sich das Leben. Sechzehn Jahre später brachte sich der jüngste Sohn um. Das war zu viel für den Familienvater: Wilhelm musste in verschiedene psychiatrische Kliniken. Die verbliebenen Kinder kamen in Pflegefamilien.

In einer kreativ-therapeutischen Gruppe entdeckte er die Kunst - und fing an, sich wiederzuentdecken, am Leben wieder teilzunehmen. Heute sieht er die Malerei als Therapie, um mit seinem Schicksal besser klarzukommen. Sein Motto: "Wer seiner Seele folgt, den erwarten große Begegnungen."

Ursprünglich, roh, schutzbedürftig

Der Galerienname Art Cru (cru steht für roh, schutzbedürftig) ist angelehnt an den französischen Begriff Art Brut (brut wie roh, ursprünglich), der die Außenseiterkunst beschreibt. Jean Dubuffet (1901 bis 1985) war ihr Hauptvertreter, der das Konzept der naiven Malerei und der antiintellektuellen Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg von Paris in die USA exportierte. Dort entwickelte sie sich unter dem Namen Outsider Art weiter und ist heute international unter diesem Begriff bekannt. Doch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatten sich Paul Klee, Max Ernst oder Emil Nolde von der "Irrenkunst", wie man sie damals noch nannte, beflügeln lassen. Inzwischen gibt es eigene Ausstellungen zu Outsider Art - und den "Euward" als europaweite Auszeichnung für Malerei und Grafik von behinderten Künstlern. Die Gewinner zeigt regelmäßig das Haus der Kunst in München.

Ein weiterer Künstler der Berliner Galerie, Michael Golz, stellt gerade in der Schweiz aus - ein Riesenprojekt: Ganze Mülltüten voller Bilder hat er angeschleppt, "ich dachte, ich werde wahnsinnig", lacht von Gersdorff-Bultmann. Täglich malt er ein Bild, seit seiner Kindheit, und baut sich darin seine ganz eigene Welt: "Athosland".

Golz' Phantasialand wird bevölkert von sehr besonderen Wesen. Erfunden hat der in München geborene Golz, der inzwischen im Ruhrgebiet lebt, für seine Wunderwelt auch das Athoswundermittel (AWM): Wer darüber verfügt, kann nichts Böses mehr denken, wird nicht krank, kann ewig leben. Eine Polizei braucht es in diesem Land nicht mehr, denn alle Menschen behandeln sich rücksichtsvoll.

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Vielleicht ist Athoswelt ja die Zukunft. Alexandra von Gersdorff-Bultmann jedenfalls will nur Künstler zeigen, die psychisch oder geistig beeinträchtigt sind. Sie sagt: "Wir nehmen keine anderen."

Die Ausstellung von Abram Wilhelm ist noch bis zum 26. Juni in der Galerie Art Cru in Berlin zu sehen, weitere Infos hier. Michael Golz ist bis zum 30. Oktober im Kunstmuseum Thurgau ausgestellt, Infos hier.

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