Ostdeutsche Geschichten:Wir Wendekinder

Lesezeit: 8 min

20 Jahre Mauerfall

Jubelnde Menschen sitzen mit Wunderkerzen am 11.11.1989 auf der Berliner Mauer.

(Foto: dpa)

Sie haben die DDR nicht mehr oder nicht bewusst erlebt und sind doch von ihr geprägt: das Porträt einer Generation, die zwischen Ost und West groß geworden ist.

Protokolle von Verena Mayer und Charlotte Theile

Sie sind so alt wie die Einheit. Groß geworden in einer Umbruchzeit, ausgestattet mit einer Freiheit, von der die Generationen vor ihnen nur träumen konnten. Gleichzeitig hatten sie die Unsicherheit ihrer Eltern vor Augen, deren Welt sich von einem Tag auf den anderen komplett veränderte. In diesem Wirrwarr mussten sie ihren Weg finden, in Berlin, im Ausland, in der Provinz. Was hat junge Ostdeutsche der Wendejahrgänge geprägt? Mit welchen Hoffnungen und Erwartungen leben sie? Wie sehr sind sie Vertreter der Generation Y, der sie altersgemäß angehören? Wir haben die Gedanken von fünf jungen Leuten protokolliert, die von der Teilung nicht viel mitbekommen haben und trotzdem in dem Bewusstsein leben, ostdeutsch zu sein.

Laura Harmsen, geboren 1989 in Ostberlin, Sozialarbeiterin in Berlin

Ich bin am Tag des Mauerfalls in Ostberlin geboren, am 9. November 1989. Meine Eltern erzählen gerne, dass die Tage davor neblig und kalt waren, und dann schien plötzlich die Sonne. Ich war eine schwierige Geburt und kam erst zehn Tage nach dem errechneten Termin, meine Mutter bekam im Krankenhaus in Köpenick gar nicht mit, dass die Mauer fiel. Erst als Verwandte sie besuchten und sagten: Wir waren gerade drüben im Westen. Für meine Eltern hat sich das Leben an diesem Tag zwei Mal komplett geändert. Sie bekamen ein Kind, und das System, in dem sie groß wurden, hörte auf zu existieren. Mein Geburtstag ist manchmal ein wenig lästig. Ich werde oft um Interviews gebeten, die Leute wollen, dass ich zu irgendetwas Stellung beziehe. Andererseits bekomme ich, sobald ich auf dem Bürgeramt mein Geburtsdatum nenne, nette Reaktionen, und die Leute erzählen mir, was sie an dem Tag gemacht haben. Als Kind wurde ich mit anderen Mauerfall-Kindern jedes Jahr zu Feiern eingeladen, mit fünf sogar mal ins Rote Rathaus zum Berliner Bürgermeister, das war aber ziemlich langweilig, mit Stillsitzen und langen Reden. Oder VW hat Feste für uns organisiert - wir waren im Zirkus, bei David Copperfield. Meine erste Barbie bekam ich auch bei einem solchen Anlass, das fanden meine Eltern nicht so toll.

Mein Vater, Journalist bei der Berliner Zeitung, zeigte mir einmal das Tagebuch, das er nach meiner Geburt für mich schrieb. "Werde groß, mein liebes Mädchen", steht darin. "Wachse auf als freier, mündiger Mensch. Und lass dich nicht von uns zu sehr deformieren, die wir geprägt sind von vielem, was wir jetzt loswerden wollen." Das finde ich sehr bewegend, vor allem den Gedanken der Freiheit. Ich bin froh über die Möglichkeiten, die ich habe. Sprachen zu lernen, zu reisen. Dort, wo ich aufwuchs, gab es eine Aufbruchstimmung. Meine Eltern haben die Freiheit genutzt. Meine Mutter, die immer nach Paris wollte, weil sie "Die drei Musketiere" gelesen hatte, hat das ganze Begrüßungsgeld gespart und konnte 1990 nach Frankreich fahren. Auch ich wollte die Freiheit, die ich habe, immer ausschöpfen. Ich habe in Ecuador Kinder unterrichtet. Jetzt bin ich Sozialarbeiterin und arbeite in der Wohnungslosenhilfe. Ich spüre Erwartungen, auch Druck. Denn ich habe ja alle Möglichkeiten. Aber was ist die richtige Entscheidung? Das herauszufinden fällt mir schwer.

Juliane Leopold, 1983 geboren in Halle an der Saale, Chefin von Buzzfeed Deutschland in Berlin

Das Schwierige an der ostdeutschen Identität für Menschen unseres Alters ist: Wir leben in einem ständigen Zwiespalt. Einerseits ist es nicht erwünscht, die Unterschiede herauszustellen, etwa die Möglichkeiten, die Westdeutsche hatten und wir nicht. Andererseits wollen wir unsere Identität bewahren, schon unseren Eltern zuliebe. Ich merke das an der Sprache: Sobald ich bei meiner Familie in Halle bin, falle ich sofort in meinen Heimatdialekt. Wenn ich so spreche, wie ich es in meinem beruflichen Umfeld in Hamburg oder Berlin tue, heben die Eltern manchmal die Augenbrauen. Auch wenn sie inzwischen wissen, dass ich nicht weniger ich selbst bin.

Ich hätte gerne, dass wir über Unterschiede sprechen können, ohne dass es als Vorwurf, Jammern oder Ostalgie gilt. Wir sind zwar bald an einem Punkt, an dem wir genauso lange keine Mauer mehr haben, wie wir mal eine hatten, aber die Prägung wird anhalten. Allein das Thema Religion, wie ich Weihnachten feiere. Ich habe jedenfalls keine Lust, meinen Atheismus abzulegen, nur weil ich im wiedervereinigten Deutschland lebe. Eine ostdeutsche Freundin meinte einmal, sie fühle sich verschluckt, und ich selbst gebe dem Thema im Alltag wenig Raum. Weil ich ja funktionieren muss. Aber auch darüber wird nicht groß geredet. Das ist typisch Osten: Man muss die Zähne zusammenbeißen, darf sich nicht mit Psychokram abgeben, denn das ist emotional und anstrengend.

Gerade baue ich als Chefredakteurin den deutschen Ableger des amerikanischen Internetportals Buzzfeed auf. Auch davor habe ich für gewinnorientierte Unternehmen gearbeitet, ich finde kommerziellen Erfolg nichts Verwerfliches, wenn man sich für die Idee dahinter begeistern kann.

Dieser Pragmatismus ist etwas Positives, auch wenn er in Verruf geraten ist, seit er als Synonym für den Regierungsstil von Angela Merkel gilt. Ich würde sogar sagen, dass dies 2014 die universelle ostdeutsche Erfahrung ist: Pragmatismus vor Ideale zu schieben, denn die Ideale haben sich nun schon einmal als hohl erwiesen.

Carolin Kneisel, geboren 1987 in Gera, lebt als Studentin in Berlin

Wenn meine Eltern und meine beiden großen Geschwister über die DDR sprachen, konnte ich als jüngstes Kind nie mitreden. Was ich trotzdem mitgenommen habe, ist eine Haltung. Ich engagiere mich beim Roten Kreuz im Katastrophenschutz und habe bei der Tafel gearbeitet. Denn auch wenn wir heute in einem kapitalistischen System leben, ist es wichtig, dass wir uns als Gemeinschaft begreifen. Das Ideal einer Gesellschaft, die sich gemeinsam erzieht und füreinander einsteht, finde ich richtig. Andererseits wurde man in der DDR zum Sozialsein gezwungen, und das finde ich nicht gut. Ich habe in Bayern und in Hessen studiert und dort festgestellt, dass ich, obwohl ich die DDR nicht mehr direkt mitbekommen habe, doch von einigen Sachen beeinflusst worden bin. Ich könnte mir etwa nie vorstellen, nur zu Hause zu bleiben und auf die Kinder aufzupassen.

Meine Mutter hat immer gearbeitet, wir waren im Kindergarten, im Hort. In Hessen, wo ich Friedens-und Konfliktforschung studiert habe, sagen viele Leute, dass das nicht geht, dass Kinder die Mutter brauchen. Ich höre das sogar von Frauen in meinem Alter: "Ich würde mein Kind nie weggeben." Das kann ich nicht nachvollziehen. Was denken die, wie wir aufgewachsen sind? Allein gelassen und vernachlässigt? Für meine Zukunft wünsche ich mir eine Stelle, bei der ich Menschen zusammenbringen kann. Am liebsten in Leipzig oder Jena, wo es inzwischen auch Freunde aus dem Westen hinzieht. Viele Städte im Osten sind in den letzten Jahren aufgewertet worden, sie sind kreativ und trotzdem günstig.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema