Organisation "Mundraub":Städter, die an Blättern knabbern

Organisation "Mundraub": Baumsalat aus Berliner Parks

Baumsalat aus Berliner Parks

(Foto: dpa; Hannah Beitzer)

Ein Salat aus Lindenblättern, Hopfen, Blüten und Tannennadeln - frisch gepflückt mitten in Berlin. Wie das geht, zeigt die Baumsalat-Fahrradtour.

Von Hannah Beitzer, Berlin

Das mit den Tomaten war ein Reinfall. Klein wie Murmeln und ebenso hart blieben sie im vergangenen Jahr, kümmerten von einer dicken Schicht Staub bedeckt auf dem Berliner Balkon vor sich hin. Es ist eben nicht jeder zum Gärtner geboren. Wie gut, dass selbst eine Großstadt wie Berlin genug Essbares hergibt für alle, die nicht nur im Supermarkt Gemüse ernten wollen.

Zum Beispiel die Blätter der Alpenjohannisbeere. "Na, nach was schmecken die?", fragt Magda Zahn. Sie gehört zur Organisation "Mundraub" und bietet Fahrradtouren durch Berliner Parks an, bei denen sie Blätter für Salat sammelt. Erst ein wenig zaghaft, dann immer mutiger rupfen die acht Teilnehmer der heutigen Baumsalat-Tour die Blätter vom Strauch. Eindeutig Champignons! "Das ist super, wenn man mal sonntags eine Pizza machen will und keine Pilze zuhause hat", sagt Zahn.

Vergessene Früchte ernten auf Mundraub.org

Die Baumsalat-Touren, die vom Berliner Park Hasenheide bis aufs Tempelhofer Feld führen, sind nur eines von mehreren Projekten der Mundräuber. Ihr Engagement begann 2009 mit einer simplen Karte im Internet, auf der Menschen unter Mundraub.org Obstbäume und Sträuche in ganz Deutschland eintragen können, deren Früchte nicht geerntet werden. Zuvor sollen sie den Mundräuber-Regeln zufolge die Eigentümer der Pflanzen ermitteln und mit ihnen abklären, ob sie mit dem Ernten einverstanden sind.

Die Mundräuber wollen mit ihren Aktionen den Blick für regionale Schätze schärfen. Warum weitgereistes Obst im Supermarkt kaufen, wenn vor der eigenen Haustür Äpfel auf der Wiese verfaulen? Um bewusste, regionale Ernährung geht es auch einigen Teilnehmern der Baumsalat-Tour aus Kreuzberg. Eine Frau erzählt begeistert von einem Film über vegane Ernährung und ist empört darüber, dass im Bioladen neulich ausländische Äpfel als deutsches Obst etikettiert waren. Andere Teilnehmer treibt eher die Entdeckungslust, sie studieren aufmerksam Bäume und Sträucher.

Dass sie im Rahmen der Baumsalat-Tour ein paar Blätter von Bäumen im Berliner Park Hasenheide pflücken, stört keinen. Komisch gucken allenfalls die anderen Parkbesucher, die mit Bier in der Hand zum nahegelegenen Karneval der Kulturen pilgern, auf die neun Städter, die konzentriert auf wildem Hopfen herumkauen. Ein bisschen pelzig schmeckt der, würzig - lecker, finden alle.

Was ist Unkraut, was ist Köstlichkeit, was ist giftig?

Und immerhin war vor ein paar Jahren auch Rucola nur seltsames Unkraut aus Italien. Heute liegt er auf jeder zweiten Pizza. Wer weiß, ob nicht die hellgrünen Spitzen der Hopfenranken der nächste Trend werden. "Man kann Hopfen anbraten und wie Spargel verwenden. Er passt prima zu Risotto", sagt Magda Zahn. Tatsächlich wachse der wilde Hopfen wie Unkraut, kaum steht irgendwo mal zwei Wochen ein Bauzaun, rankt er sich schon bis ganz nach oben, sagt Zahn.

Damit kommt sie zu einem weiteren wichtigen Punkt. Denn direkt vom Strauch essen dürfen Mundräuber nur Blätter in einer bestimmten Höhe - außerhalb der Pinkel-Reichweite von Mensch und Tier. "Wenn irgendwo viele Hunde und ihre Besitzer vorbeikommen, müsst Ihr die Blätter zuhause auf jeden Fall gut waschen", sagt Zahn. Das helfe übrigens auch gegen den in Großstädten verbreiteten Feinstaub.

Die Mundräuber sollten außerdem darauf achten, dass sie mindestens zehn Meter von stark befahrenen Straßen entfernt ernten, wegen der Abgasbelastung. Kein Wunder, dass die Tomaten auf dem Balkon an der Hauptstraße nicht wachsen wollten! "Aber mitten in der Hasenheide ist es besser als in manchen Gegenden auf dem Land, wo viele Pestizide verwendet werden", sagt Magda Zahn. Ein Apfel der dort vom Baum falle, habe in der Regel weniger Pestizide abgekommen, als einer, der neben einem gut gedüngten Maisfeld wachse.

Wann Mundraub gefährlich sein kann

Die wichtigste Regel für Mundräuber aber lautet: Immer genau hinschauen, was man pflückt. "Ihr dürft Euch nie auf nur ein Merkmal verlassen - zum Beispiel die Blätter", sagt Mundräuberin Zahn. Zu groß sei die Gefahr, sich an einer ähnlich aussehenden, aber giftigen Pflanze den Magen zu verderben. Oder schlimmeres. Mindestens drei Merkmale sollen die Mundräuber prüfen, rät Zahn. Zum Beispiel die Form der Blätter, den Stammwuchs und das Aussehen der Blüten.

"Wir waren neulich auf einer Radtour und haben Bärlauch gesehen", erzählt einer der Teilnehmer. "Jedenfalls glaubten wir das. Aber dann waren wir uns nicht sicher und haben ihn stehenlassen." Magda Zahn ist skeptisch: Bärlauch in Berlin? Gibt es eigentlich nicht. Sie fragt ganz genau, wie die Pflanzen aussahen, wo und wie sie wuchsen. "Wahrscheinlich waren das Maiglöckchen, die wachsen auch in Teppichen", sagt sie schließlich. Und lobt: "Ihr habt alles richtig gemacht."

"Tanne - Teller, Fichte - Fähnchen"

Wie schwierig das mit der Unterscheidung von Pflanzen zuweilen ist, zeigen auf der Tour Eibe, Tanne und Fichte. Die drei Nadelbäume sehen sich zum Verwechseln ähnlich. In den Baumsalat gehören allerdings nur die Nadeln der letzten beiden. Die Eibe ist giftig, und zwar sehr. Wenige Gramm ihrer Nadeln können ein Pferd töten. Das ist nicht sehr beruhigend. Man erkennt die Eibe zum Beispiel an den roten Früchten, an den weichen Nadeln und daran, dass sie keine Zapfen entwickelt.

Die Nadeln von Tanne und Fichte hingegen pflücken die Mundräuber bedenkenlos von den Ästen. Die der Tanne bilden unten ein kleines Tellerchen, die der Fichte ein Fähnchen. "Tanne - Teller, Fichte - Fähnchen, so kann man sich das prima merken", sagt Zahn. Beide schmecken ziemlich intensiv, wie eine Mischung aus Zitrone und Badezusatz. "Mit Zucker kann man daraus einen Sirup machen, der gut gegen Erkältungen hilft", sagt Zahn.

Aber passt so ein nadelförmiges Hustenbonbon wirklich in einen Salat? Gemeinsam mit dem Hopfen, Lindenblättern, den Blättern des "Champignon-Strauchs", einigen Ahorn- und den nach Marzipan schmeckenden Blättern der Eberesche schnippelt Zahn die Nadeln an der letzten Station auf dem Tempelhofer Feld in eine Schüssel.

Das Holunderdressing gibt die Süße

Darüber streut sie einige Weißdorn-Blüten und kippt ein Fläschchen selbstgemachtes Holunderblütendressing auf die Blätter. Das gibt die richtige Süße. Fertig ist der Baumsalat. Das Ergebnis schmeckt überraschend gut, jeder Bissen ein wenig anders: nach Champignon, Zitrone, Marzipan, Hopfen. "Wem das zu viel Geschmack ist, der kann die Blätter natürlich auch mit normalem Salat mischen", sagt Magda Zahn.

Auch die wichtigste Zutat für das Dressing können Mundräuber bald ernten, sagt sie. Wenn nämlich hier auf dem Tempelhofer Feld der Holunder blüht. Dann ist allerdings die Zeit für Baumsalat fast vorbei. Denn gut schmecken die Blätter nur, so lange sie jung und hellgrün sind. Später werden sie zäh und entwickeln Bitterstoffe.

Selbstgemachter Holunderblüten-Sirup hält sich aber auch bis ins nächste Jahr - und aus den Blüten lassen sich leckere Pfannkuchen backen, sagt Zahn. "Was nimmst Du denn anstelle von Eiern?", fragt die Teilnehmerin aus Kreuzberg. "Es gibt sicher vegane Alternativen", sagt Magda Zahn, "aber ich bin eine Allesesserin." Sie lacht. Darauf noch eine Gabel Baumsalat!

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