Obsternte zum Stressausgleich:Die Zeit ist reif

Apfelernte hat begonnen

Obsternte wird zum Freizeitsport, von dem beide Seiten profitieren - die Gestressten finden innere Zufriedenheit, die Obstbauern zusätzliche Erntehelfer.

(Foto: dpa)

Auf dem Hof von Familie Schmitt in der Fränkischen Schweiz gibt es genug zu tun. Inzwischen helfen ihnen nicht nur bezahlte Kräfte bei der Ernte - immer mehr Freiwillige kommen auf den Hof, um beim Apfelpflücken und Mirabellensammeln zu entspannen.

Von Titus Arnu

Es hört sich an, als würden dicke Hagelkörner vom Himmel fallen. Ein wildes Trommeln, ein lautes Prasseln, am Schluss nur noch ein leichtes Tröpfeln. Doch im Gegensatz zu einem Gewitterschauer ist dieser Niederschlag hier hoch willkommen: Es sind Tausende dunkelgelber Kugeln, die köstlich duften, nach Sommer, Garten, frisch gekochter Marmelade. Roland Schmitt schüttelt noch mal an den drei Meter hohen Bäumen, und ein weiterer Mirabellen-Schauer geht auf die Wiese nieder.

"Anastasia, zieh bitte mal da vorne an der Plane", ruft Schmitt, "wir gehen einen Baum weiter." Unter den Baumreihen sind mehrere zehn mal zehn Meter große Plastikplanen am Boden ausgebreitet, auf denen die reifen Früchte landen, wenn Schmitt am Stamm und an den Ästen der Obstbäume rüttelt. Den Arbeitsrhythmus hat man schnell verinnerlicht: Schmitt schüttelt, nach dem Schütteln kommt der Schauer, und nach dem Schauern das Kauern. Die Erntehelfer knien auf der Plane und sortieren unreife, angefaulte und zerplatzte Mirabellen aus. Die guten landen im Eimer, die schlechten im Gebüsch.

Wenn die Mirabellen, die Birnen, die Zwetschgen und die Äpfel auf dem Hof der Schmitts in der Fränkischen Schweiz Ende September reif sind, schafft die Familie die ganze Arbeit kaum alleine. Roland Schmitt arbeitet hauptberuflich bei der BASF, wo er für Pflanzenschutz zuständig ist, die drei Kinder haben ihre eigenen Berufe, und seine Frau Andrea kümmert sich auch noch um die vielen Tiere auf dem Hof.

Die "Obstwiese Schmitt" in Oberehrenbach bei Erlangen ist in erster Linie ein Obstbaubetrieb, aber auch ein kleiner Privatzoo: Außer den zwei Münsterländern, die den Hof bewachen, gibt es noch Papagei Toni, eine Herde Kamerunschafe, einige Kängurus und Esel Maja. Und seit zwei Tagen ist da noch ein Eselfohlen, so groß wie ein Schäferhund, es stakst mit klapprigen Beinen zwischen den Erntehelfern herum und sucht nach Milch. Der Mini-Esel wurde vom Muttertier nicht angenommen und wird jetzt alle ein, zwei Stunden von Andrea Schmitt mit dem Fläschchen gefüttert. "Schlimmer als ein Baby!", stöhnt sie, "aber soll ich es einfach sterben lassen? Das kann ich nicht."

Obsternte als Erlebnis für die Freizeit

Die Schmitts können beim Ernten also gut Hilfe gebrauchen, und deshalb rutschen Anastasia und die anderen Erntehelfer nun über die ausgebreiteten Planen und sammeln reife Mirabellen ein. Manche bekommen dafür einen Stundenlohn, andere sind freiwillig da und arbeiten gegen Kost und Logis - einfach weil ihnen das Pflücken, Aufheben und Sortieren Spaß macht. Der Tourismusverband Fränkische Schweiz vermarktet das als "Ernteerlebnis".

Freiwillige Erntehelfer können sich bei 17 Obstbauernhöfen in der Region anmelden, um dort Kirschen, Zwetschgen, Birnen, Äpfel oder Mirabellen zu ernten. Die Hobby-Pflücker bringen komplett unterschiedliche Motivationen mit, sagt Roland Schmitt: Da gibt es den ausgebrannten Manager aus der Computerbranche, der beim Apfelpflücken wieder zu sich finden will, zwei italienische Schülerinnen, die für ein Praktikum eine Woche lang auf dem Hof wohnen oder die griechische Lehrerin, die bei der Arbeit nebenbei ihre Deutschkenntnisse verbessern will.

Ernten als Event? Angebote wie das "Ernteerlebnis" in Franken sind im Trend. Musiker Sting zum Beispiel geht regelmäßig Olivenpflücken in der Toskana, weil das Ernten "eine geradezu therapeutische Wirkung" auf ihn habe, wie er in einem Interview schwärmte, dabei fühle er sich "als Teil einer uralten Tradition". Das Ernten ist, mal bodenständig betrachtet, natürlich kein neuer Wellness-Trend. Die Arbeit mit Pflanzen hat den Menschen in seiner ganzen Geschichte begleitet, und zwar meistens nicht als Freizeitspaß, sondern eher aus dem Grund, weil er ohne Ernte verhungert wäre.

Gestresste Manager als willkommene Erntehelfer

Dennoch muss man keine blühende Phantasie besitzen und auch kein Gartentherapeut sein, um zu ahnen, dass körperliche Arbeit an der frischen Luft guttut - und zwar vor allem seelisch. Der Rücken und die Arme tun nach einer Weile dann doch ein bisschen weh. Roland Schmitt hat sich das "Ernteerlebnis" nicht ausgedacht, weil er einen neuen Outdoorsport erfinden wollte, sondern aus der Not heraus. 2004 gab es eine Zwetschgen-Rekordernte, und die Schmitts wussten nicht mehr, wie sie die vielen Früchte pflücken und verarbeiten sollten. "Es kann ja nicht sein, dass die Natur so viel hergibt, und wir lassen es verkommen!", dachte sich der Nebenerwerbs-Obstbauer, und gründete zusammen mit 16 anderen Obstbaubetrieben den Verein "Ernteerlebnis Franken". Dessen Grundprinzip: Arbeiten und dabei genießen.

Auf der einen Seite wird den Landwirten geholfen, auf der anderen Seite können die Ernte-Touristen während des Pflückens die Landschaft und die anderen Erntehelfer kennenlernen. Jeder freiwillige Helfer arbeitet nur so lange, wie er Lust hat - den Rest der Zeit kann er die Natur in der Fränkischen Schweiz genießen, etwa beim Radeln, Wandern oder Klettern. Ein paar Tage auf einem Obstbauernhof können tatsächlich therapeutische Wirkung haben. "Man ist bei uns in einer anderen Welt", sagt Roland Schmitt, "morgens wacht man vom Vogelgezwitscher auf, und bei der Arbeit kann man völlig abschalten." Man beleidigt wahrscheinlich niemanden, wenn man feststellt, dass Pflücken eine geistig nicht extrem anspruchsvolle Tätigkeit ist.

Profitables Abkommen für alle

Wer sich für die "Obstwiese Schmitt" in Oberehrenbach entschieden hat, bekommt Familienanschluss und einen liebesbedürftigen Esel dazu. Um 6.30 Uhr klingelt der Wecker, dann treffen sich alle in der hellen, offenen Küche der Schmitts zum Frühstück. So eine Art Vogelgezwitscher wird auch geboten: Papagei Toni sorgt mit grellen Hallo-Rufen und Pfiffen dafür, dass auch wirklich alle wach sind, wenn es rausgeht in die Obstplantagen.

Die Gruppe ist bunt gemischt, neben bezahlten Erntehelfern aus Osteuropa, Roland Schmitt, seiner Frau und dem Eselfohlen ist auch Willi Schmitt, ein Rentner aus dem Steigerwald dabei. "Es klingt ein bisschen verrückt, aber ich habe zu Hause selber zwei große Gärten mit Gemüse und Obst", sagt Willi Schmitt, der nicht mit Roland Schmitt verwandt ist, "aber ich bin eben sehr naturverbunden, und mir macht es Spaß, zusätzlich hier zu helfen."

Streuobstwiesen zwischen Hügeln und Wäldern sind typisch für die Fränkische Schweiz, aber immer weniger dieser Wiesen werden abgeerntet, weil sich die Arbeit kaum noch lohnt. Die EU fördert das Erntehelfer-Projekt im Rahmen des Programms "Listen to the voice of villages", um die ökologisch wertvollen Streuobstwiesen zu erhalten. Ähnlich wie die Bergbauernhilfe in Südtirol, die seit Jahren erfolgreich Stadtmenschen zum Arbeiten auf Almen lockt, könnte das freiwillige Obsternten den Bauern, der Region und den Gästen gleichermaßen etwas bringen.

Ein Handgriff für jeden Apfel

Die Schmitts bauen auf drei Hektar "Intensivobst" an, also niederstämmige Obstsorten in Monokultur, und auf drei Hektar Streuobst - alte Apfel- und Birnensorten, die auf wunderschönen knorrigen Bäumen wachsen, einige davon 100 Jahre alt. Die Süßkirschen, Mirabellen, Zwetschgen, Äpfel und Birnen, die die Erntehelfer im Lauf des Sommers und Herbstes ernten, werden auf Märkten in der Umgebung verkauft, von Andrea Schmitt zu Marmelade, Likör und Essig verarbeitet oder von Roland Schmitt zu Schnaps gebrannt.

Beim Kontrollgang durch die Baumreihen riecht Roland Schmitt an fast reifen Williams-Christ-Birnen und erklärt, wann der richtige Zeitpunkt zum Pflücken ist und worauf es beim Ernten ankommt: "Die Äpfel muss man wie rohe Eier behandeln." Er pflückt eine Handvoll gelb-rote Gerlinde-Äpfel, sammelt sie in seiner grünen Schürze, bückt sich zur Kiste hinunter und legt die Früchte einzeln hinein. Bei ihm werde nicht alles auf einmal abgeerntet, erklärt er, sondern die Erntehelfer gehen drei- bis viermal an unterschiedlichen Tagen durch die Reihen, um jeden einzelnen Apfel zur optimalen Zeit zu pflücken, und nicht, wenn er noch nicht ganz reif ist. Das merkt man an der Qualität. Es braucht viel Zeit und Idealismus, um so zu arbeiten.

Am Ende des Tages geht der letzte Mirabellenregen auf die Planen nieder, Willi und Anastasia tragen Zehn-Liter-Eimer randvoll mit Mirabellen zum Haus. Alle Erntehelfer und die Schmitts treffen sich zum Abschluss der Arbeit zum gemeinsamen Essen. Was sich dann während und nach der Arbeit bei den Schmitts abspielt, ist Völkerverständigung im bodenständigen Sinne. Zwei Rumäninnen, die zur Kirschernte da waren, wollten wissen, wie eine deutsche Weihnachtsfeier abläuft - "also haben wir mitten im Sommer alle zusammen einen Christstollen gebacken und Weihnachtslieder gesungen", erzählt Andrea Schmitt, "eine Rumänin hat dazu Panflöte gespielt". Natürlich gab es auch selbst gebrannten Schnaps - aus Früchten, die andere Helfer im Vorjahr gepflückt hatten.

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