Süddeutsche Zeitung

Obdachlose:Räumungen sind keine Alternative

In München und Berlin haben die Behörden verstörende Bilder produziert: Sie haben die Camps von Obdachlosen aufgelöst. Doch wer Menschen von der Straße holen will, erreicht diese nicht mit Druck.

Kommentar von Oliver Klasen

Das Elend ist allenfalls als Einzelfall zu ertragen. Ein Obdachloser, der in der Fußgängerzone um Geld bittet; ein Obdachloser, der im Eingang eines Hauses Schutz vor Kälte sucht - das nehmen viele Menschen hin und sagen sich: Da hat ein Einzelner Pech gehabt, ist irgendwann im Leben falsch abgebogen, ist durch das soziale Netz gefallen.

Wenn sich aber eine Gruppe von Obdachlosen zusammentut, Zelte aufbaut, Schlafsäcke ausrollt und auch sonst noch einige Dinge tut, die gegen die Münchner Reinhaltungsverordnung oder das Berliner Grünanlagengesetz verstoßen, greifen Behörden hart durch und räumen, wie zuletzt in München und Berlin, diese Camps. Man sieht Polizisten, die in schwerer Uniform Obdachlose abführen, oder Bauarbeiter, die die Habe der Menschen abtransportieren. Die verstörenden Bilder dokumentieren ein soziales Problem, bei dessen Lösung die Gesellschaft bisher versagt hat.

Die Städte sagen, es sei ihre moralische Pflicht, Obdachlosen-Camps aufzulösen. Denn bei Kälte könnten Menschen erfrieren, die hygienischen Zustände in Matratzenlagern seien unhaltbar, die öffentliche Sicherheit sei in Gefahr, und unter Flussbrücken drohe Hochwasser. Selbst wenn das im Einzelfall stimmen und es gelegentlich Gründe geben mag, wilde Camps aufzulösen: Es ist nicht die ehrliche Antwort.

Ehrlich wäre es, zuzugeben, dass die Städte kein tragfähiges Konzept haben, wie sie mit der steigenden Anzahl von Obdachlosen umgehen sollen. Ehrlich wäre es, sich einzugestehen, dass, wie 2015 und 2016, als die Zahl der Flüchtlinge kräftig anstieg, in Teilen der Politik und der Verwaltung die Haltung vorherrscht, es den Menschen am Rande der Gesellschaft bloß nicht zu einfach zu machen - denn sonst könnten ja noch mehr dieser Menschen in die eigene Stadt kommen. Und ehrlich wäre es, offen zu sagen, dass mit Räumungen wie im Ulap-Park in Berlin und in der Kapuziner-Unterführung in München nachhaltig nichts erreicht wird, außer, dass die Obdachlosen sich wenige Wochen später woanders sammeln.

Er wolle die Obdachlosen mit sanftem Druck dazu bewegen, Hilfe anzunehmen, sagt Stephan von Dassel, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Mitte. Doch das wird nicht funktionieren. Camp-Bewohner werden nicht plötzlich kooperativ und gehen in eine Notunterkunft, weil der Staat sie von ihrem angestammten Platz vertreibt. Repression ist kontraproduktiv. Viele Obdachlose sind psychisch krank, von Alkohol oder Drogen abhängig, und einige sind so sehr am Ende, dass sie selbst einfachste Entscheidungen für das eigene Leben nicht treffen können.

Niemand lebt freiwillig auf der Straße. Aber andererseits, sagen die Städte, muss auch niemand auf der Straße übernachten. Es gebe genug Hilfsangebote. Doch ein freies Land muss mitunter ertragen, dass einige wenige Menschen für diese Hilfsangebote nicht erreichbar sind. Manche Obdachlose haben eine Abneigung gegen Gruppenunterkünfte, weil sie dort keinen Alkohol trinken dürfen; oder weil Hunde dort verboten sind; oder weil sie Angst haben, bestohlen zu werden. Manche kommen auch schlicht nicht damit zurecht, auf engem Raum mit anderen Menschen zusammenzuleben.

Es ist dann gutes Zureden nötig, Eingehen auf den Einzelnen. Beharrliche Streetworker-Arbeit eben. Die kostet Geld, Zeit, Mühe, Kraft und Durchhaltevermögen. Aber es gibt wenig sinnvolle Alternativen. Räumungen sind jedenfalls keine.

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SZ vom 28.01.2019/ick
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