Obdachlose in Berlin:Worte statt Stacheln

Menschen ohne festen Wohnsitz

Selber Schuld? Das Verhältnis der Öffentlichkeit zu Obdachlosen ist ambivalent.

(Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Berliner Hausbesitzer haben Spikes in den Gehweg montiert, angeblich um Obdachlose zu vertreiben. Über der Debatte steht die Frage: Wo in den gentrifizierten Innenstädten findet Armut noch einen Platz?

Von Hannah Beitzer, Berlin

Im Boden sind jetzt nur noch ein paar kleine Löcher zu sehen. Hier, vor einem Gebäude in einer der schickeren Einkaufsstraßen Berlins, waren bis vor Kurzem noch Stacheln auf die windgeschützte Fläche vor einem Ladeneingang montiert. Und ein Verdacht ging durch die Boulevardmedien: Wollen die Inhaber mit den Stacheln Obdachlose vertreiben? Das hatten vor vier Jahren Hauseigentümer in London versucht, mussten sie aber nach Protesten wieder entfernen.

Die Eigentümer des Berliner Hauses versichern: alles nur ein Missverständnis. Ihre Mieter hätten sich beschwert, weil sich die Kunden eines benachbarten Imbisses vor dem Haus breitmachten, Müll liegen ließen, den Zugang zu den Geschäften versperrten. Gegen Obdachlose hätte niemand etwas.

Die Aufregung über die vermeintliche Obdachlosenverjagung ist mehr als eine regionale Posse. Sie sagt viel aus über einen Kampf, der in Berlin immer erbitterter geführt wird. Die Hauptstadt, einst legendär billig, wird immer teurer. Leute mit Geld drängen in die Innenstadtviertel, sanieren Häuser, eröffnen Cafés und Boutiquen, die sich die alten Bewohner nicht im Traum leisten können. Denen bleibt oft nur der Umzug an den Rand der Stadt. Kein Wunder, dass es viel Ärger verursacht, wenn der Eindruck entsteht: Jetzt sollen auch noch die Ärmsten der Armen aus dem Blickfeld verschwinden.

Eine Form der "defensiven Architektur"

Mit Konflikten wie diesem ist Berlin nicht allein. Auch in anderen Städten gibt es immer wieder Streit um die Frage, wer sich wo aufhalten darf. Obdachlose betrifft das in besonderem Maße. Nicht nur, weil sie gesellschaftlich ganz unten stehen. Sondern weil sie ihren Mitbürgern Armut in einem eigentlich reichen Land vor Augen führen. Dass einige von ihnen schlecht riechen, trinken, psychisch krank oder aggressiv sind, macht die Sache nicht einfacher.

Stacheln seien eine besonders augenfällige Form der sogenannten defensiven Architektur, die ungeliebte Gruppen von bestimmten Orten fernhalten soll, sagt Sandra Wolf. Die Stadtforscherin promoviert an der Bauhaus-Universität Weimar zum strategischen Umgang mit Wohnungs- und Obdachlosen im öffentlichen Raum deutscher Großstädte. "Allerdings gibt es noch häufiger Maßnahmen, die viel weniger auffallen."

Die treten der Forscherin zufolge meistens in Gegenden auf, die dem Konsum oder dem Tourismus gewidmet sind oder eine repräsentative Funktion haben. Also zum Beispiel in Fußgängerzonen oder Vierteln mit vielen Sehenswürdigkeiten. "Auch Bahnhöfe sind ein gutes Beispiel", sagt Wolf, "man will vermeiden, dass Besucher gleich zu Beginn einen schlechten Eindruck von der Stadt bekommen."

"Erhöhte Sauberkeit und Ordnung"

Etwa in Frankfurt am Main: Früher sei das dortige Bahnhofsviertel durch die Trinkerszene, Sexarbeiter und -arbeiterinnen, Drogenkonsumenten und Wohnungslose geprägt gewesen. "Inzwischen gibt es eine Art Korridor vom Bahnhof bis zur Zeil, das ist die Frankfurter Fußgängerzone." Dort wurden zum Beispiel kleine Dächer auf die Stromkästen montiert, an denen sich früher die Trinkerszene traf. "Nun können die Leute dort ihre Flaschen nicht mehr abstellen." An manchen Stellen seien Wasserdüsen in die Fassaden eingelassen, "da kann sich niemand mehr hinsetzen oder -legen." Ähnliche Düsen gebe es auch in Hamburg. Das offizielle Argument für solche Maßnahmen sei stets: "Erhöhte Sauberkeit und Ordnung".

In Berlin habe sich die Situation von Obdachlosen ebenfalls verändert, sagt Ortrud Wohlwend von der Berliner Stadtmission. "In den Jahren nach der Wende gab es hier viele leere Häuser und Brachen", sagt sie, "da konnten wohnungslose Menschen gut Unterschlupf finden." Das sei heute nicht mehr der Fall. Trotzdem kommen immer mehr Obdachlose in die Hauptstadt, die meisten von ihnen aus Osteuropa. Entsetzen löste vergangenes Jahr ein "Elendscamp" wohnungsloser Menschen im Tiergarten aus. Dort überfiel ein Tschetschene eine Frau und tötete sie. Der zuständige Bezirk Mitte räumte das Camp, als "letztes Mittel", nachdem alle Bemühungen gescheitert seien, die Bewohner über Sozialarbeit zu erreichen.

Doch das grundlegende Problem blieb. "Die Leute sind ja nicht auf einmal weg. Sie müssen sich dann einen anderen Unterschlupf suchen", sagt Wohlwend.

Dennoch findet sie den Umgang mit Obdachlosigkeit in Berlin an vielen Stellen gelungen. "Wir haben ein dichtes Netz der Hilfe", sagt sie. Sie lobt zum Beispiel die Zusammenarbeit mit der Polizei und mit den Berliner Verkehrsbetrieben, der BVG. Zudem engagierten sich viele Berliner ehrenamtlich in der Obdachlosenhilfe.

Im Winter Mitleid - im Sommer Geringschätzung

Forscherin Sandra Wolf beobachtet ein ambivalentes Verhältnis der Öffentlichkeit zu Obdachlosen. "Einerseits finden es viele Menschen bedauernswert, dass es in einem reichen Land wie Deutschland Obdachlosigkeit gibt", sagt sie. Auf der anderen Seite seien viele Deutsche der Meinung: "Wer obdachlos ist, ist selber schuld." Und so schwanke die Öffentlichkeit zwischen Mitleid und Geringschätzung. Im Winter treibe viele Menschen die Sorge um, dass die Obdachlosen erfrieren könnten, sie forderten mehr Unterstützung. Anders im Sommer: "Da werden zum Beispiel Parks vermehrt von Obdachlosen genutzt, von deren Anblick man sich beim Spazierengehen oder Grillen gestört fühlt." Und der Ruf nach Ordnung werde wieder lauter.

Ortrud Wohlwend kann verstehen, dass Menschen sich gestört fühlen, wenn Obdachlose in die U-Bahn einsteigen und stinken. "Sprechen Sie die Leute an", rät sie, "sagen Sie ihnen, wo die nächste Ambulanz ist." Denn häufig sei Verwahrlosung ein Zeichen von Hilfsbedürftigkeit. Sie versteht es auch, wenn sich Parkbesucher ärgern, dass ein Wohnungsloser seinen Müll hinterlassen hat - und warnt vor Verallgemeinerungen: "Das sind Verhaltensweisen, die nicht nur Obdachlose zeigen."

Eines ist ihr wichtig: "Obdachlose müssen sich genauso wie Menschen mit Wohnung an bestimmte Regeln des Miteinanders halten." Auf dem Gelände der Stadtmission etwa herrsche Alkoholverbot. "Ich finde es richtig, dass wir sagen: Das geht hier nicht", sagt sie. Also Worte statt Stacheln.

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