Notfallbetreuung:Ist da jemand?

Eigentlich sind die Schulen gerade geschlossen. Manche Kinder gehen aber trotzdem hin. Warum? Ein Tag mit Anna und Sophie.

Von Nina von Hardenberg

Wenn Sophie und Anna morgens aus dem Haus gehen, sind in ihrer Straße fast überall die Rollläden runtergelassen. Alle schlafen noch - alle außer ihnen. Die beiden Schwestern packen wie sonst auch um halb acht Uhr morgens ihre Pausenbrote ein und schnallen sich den Ranzen auf, der jetzt immer superleicht ist. Dann fährt ihre Mutter sie zur Schule, der Grundschule Deisenhofen im Süden von München. Alleine laufen wollen sie zurzeit lieber nicht, weil sie mit ihren Ranzen schon ein paar Mal angesprochen wurden. "Wo geht ihr hin?", fragen andere Kinder sie. "Die Schule ist zu!", erklären ihnen superschlaue Erwachsene. Dabei ist die Schule eben nicht zu, jedenfalls nicht für Sophie, acht, und Anna, sechs.

Weil ihre Eltern beide als Ärzte arbeiten und gerade dringend gebraucht werden, dürfen die Schwestern weiterhin kommen. Für sie gilt im Ausnahmezustand eine Ausnahme. Jedenfalls an den Tagen, an denen ihre Mutter, die in Teilzeit als Kinderärztin arbeitet, in die Klinik muss. Ganz schön doof und auch irgendwie unfair fanden die beiden das am Anfang. "Aber jetzt ist es auch ein bisschen gut", sagt Anna.

Eigentlich gibt es strenge Regeln fürs Klettergerüst, aber jetzt ist es immer frei

Die Schule sieht irgendwie anders aus so ganz ohne Kinder. "Total aufgeräumt und leise", sagt Sophie. Etwa 300 Kinder in 14 Klassen besuchen die Grundschule Deisenhofen an normalen Tagen. Nun stand am ersten Tag nur ein einsamer Roller vor dem Schultor. Den hat bis heute keiner abgeholt. Die Schule und auch der Pausenhof gehören jetzt den Schwestern alleine. Normalerweise gelten strenge Regeln, wer auf die Schaukel oder das Klettergerüst darf: ein Tag nur die Jungen, einen die Mädchen, mal nur die jüngeren Schüler, dann die älteren. Jetzt ist die Schaukel immer frei, und den Pausenhof erkunden die beiden bis in den hintersten Winkel. Sie haben einen Ball gefunden. Wem der wohl gehört? Die leere Schule sieht ein bisschen wie ein Geisterhaus aus. Aber irgendwie auch schön. Anna nimmt jetzt manchmal eine Kamera mit und macht Fotos vom einsamen Klettergerüst und dem leeren Schulhof.

Auch Rektorin Dorothea Büchlmeir ist ihre Schule so ganz ohne Kinder etwas fremd. Vergangenes Jahr war die Schule wegen starken Schneefalls schon mal zu, und danach noch mal wegen eines Sturms. Aber so lange am Stück? "Das hatten wir noch nie", sagt sie. Die Schule sei gerade erst fünf Jahre lang saniert worden, jetzt sollte der Alltag endlich wieder richtig losgehen. Ein großes Frühlingssingen hatten sie geplant mit Eltern und Kindern. "Als ich das aus dem Kalender streichen musste, tat das schon weh", sagt sie. Nun möchte sie es wenigstens für die Kinder, die kommen dürfen, schön machen. Letzte Woche hatte sie Geburtstag. Da durften Anna und Sophie mit ihr im Lehrerzimmer Kuchen essen.

Nicht nur die Schule, auch die Lehrerinnen und Lehrer sind irgendwie anders, findet Sophie: "Netter, freier und nicht so gestresst." Sie wechseln sich mit dem Notdienst ab, jeden Tag kommt jemand anderes. Am ersten Tag war es Sophies Sportlehrerin. Aber Sport haben sie nicht gemacht, sondern Arbeitsblätter. Die gleichen, die ihre Klassenkameraden nach Hause geschickt bekommen. Am zweiten Tag kam Sophies Klassenlehrerin und dann die von Anna. Eigentlich ganz schön, die Lehrerinnen mal so ganz für sich allein zu haben, sagt Sophie.

Das findet wohl auch ihr kleiner Bruder Julius. Den treffen die Schwestern, wenn sie mittags in den Hort rübergehen, der gleichzeitig auch Kindergarten und Kita ist. Gemeinsam essen sie dann ihr selbst mitgebrachtes Mittagessen. Denn der Caterer liefert dem Hort derzeit kein Essen. "Warst du ganz alleine?", fragten die Mädchen ihren Bruder. Nein, sagte er, Annette war auch da. Eine Erzieherin ganz für ihn alleine.

Wer ist wichtig?

Gerade sind wegen des neuen Coronavirus viele Menschen krank. In den Kliniken ist es viel voller als sonst, und es werden alle Ärztinnen und Ärzte gebraucht, um die Patienten gut zu behandeln. Deshalb können Ärzte nicht zu Hause bleiben und auf ihre Kinder aufpassen, wie es gerade viele andere Erwachsene tun. Das Gleiche gilt für Kranken- und Altenpfleger und alle anderen, die im Gesundheitssystem arbeiten. Sie sind so wichtig, dass die Gesellschaft nicht auf sie verzichten kann. Aber nicht nur sie. Was ist mit den Feuerwehrleuten und den Polizisten? Oder den Kassierern im Supermarkt und den Busfahrern? Es gibt Berufe, die es immer braucht. Auch und ganz besonders in einer Krise. Man nennt sie "systemrelevant". Das bedeutet, dass etwas nur funktioniert, weil sie da sind. Bei den Ärzten ist das die Gesundheitsversorgung und bei den Busfahrern der Busverkehr. Für Menschen, die solchen wichtigen Beruf ausüben, gelten darum besondere Rechte. Sie dürfen zum Beispiel ihre Kinder in die Notbetreuung der Schule bringen. Wer genau wichtig ist, darüber ist man sich in Deutschland allerdings überhaupt nicht einig. Am Anfang hielten zum Beispiel nur zwei Bundesländer es für wichtig, dass Journalisten weiter ihre Arbeit machen können. Inzwischen haben viele klargestellt: Journalisten sind wichtig, weil sie über das Coronavirus informieren. Nina von Hardenberg

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