Süddeutsche Zeitung

New-York-Kolumne (XXXIV):Welche Regeln hier gelten

Drei Gesetzmäßigkeiten haben den New Yorker Stadtteil Hell's Kitchen bislang zusammengehalten: der Pizzapreis, das Tempo auf dem Gehsteig und die irische Mafia. Und jetzt?

Von Christian Zaschke

Der Ein-Dollar-Pizza-Laden um die Ecke auf der 9th Avenue hatte kürzlich beschlossen, künftig 1,25 Dollar für ein Stück Pizza zu verlangen. Lange galt in Hell's Kitchen die Regel, dass ein Stück Pizza mit Tomate und Mozzarella so viel kostet wie ein Ticket für die U-Bahn. Es war eine ungeschriebene Regel, aber sie war ehern. Ebenso ungeschrieben war die Regel, dass man beim Gehen auf dem Bürgersteig eine Geschwindigkeit von fünf Kilometern pro Stunde nur bei körperlichen Gebrechen unterschreitet, ferner die Regel, dass in Hell's Kitchen die irische Mafia bestimmt, wo's langgeht.

Diese drei Regeln hielten Hell's Kitchen zusammen. Die älteren Bewohner des Viertels, die man zum Beispiel im Rudy's trifft, einer exzellenten Schrottbar, von der aus verschiedenen Gründen nicht verraten werden kann, wo sie genau liegt, behaupten gern, dass die Zeit der ehernen Regeln vorbei sei. Aber das stimmt nur zum Teil.

Schon klar: Der Pizzamarkt ist so umkämpft, dass er sich längst von der U-Bahn entkoppelt hat. Ein Ticket für die Subway kostet 2,75 Dollar. Ein Stück Pizza mit Tomate und Mozzarella kostet einen Dollar. Aber diese Regel gehört heute zu den neuen Grundfesten von Hell's Kitchen. Sie ist ungeschrieben, aber sie ist ehern. Und ja: Auf den Bürgersteigen herrscht oft Stau, wegen der 65 Millionen Touristen, die jährlich nach New York kommen. Aber die Bewohner des Viertels halten trotzdem ihr Tempo.

Die irische Mafia? Habe sich zur Ruhe gesetzt, heißt es im Rudy's, weil ihre großen Bosse alle tot seien. Einer der letzten Bosse war mein Nachbar James McManus, der sich jüngst zu den ewiggrünen Hügeln verabschiedet hat. Wenn ich ihn, während wir auf seinem Balkon einen Jameson tranken, zur Geschichte der irischen Mafia in Hell's Kitchen befragte, versicherte er mir in seinem singenden Akzent, dass es hier nie eine irische Mafia gegeben habe. Darauf stießen wir an.

Als damals die Trauergemeinde nach der Gedenkfeier mit einer Geschwindigkeit von exakt fünf Kilometern pro Stunde durch Hell's Kitchen marschierte, zurück zu dem ehemaligen Schwesternwohnheim, in dem sowohl James als auch ich eine bescheidene Bleibe gefunden hatten, passierten wir den Ein-Dollar-Pizza-Laden, der annoncierte, dass er seine Stücke künftig für 1,25 Dollar zu verkaufen gedenke. "Oh", sagte ein mir unbekannter Mann mit irischem Akzent, "das hätte James nicht gewollt."

Wir zogen weiter, in James' Wohnung, wo wir auf den Toten tranken. Ich fragte den mir unbekannten Mann nach der irischen Mafia und James' Rolle darin, und er lächelte. "Eine irische Mafia", sagte er in seinem singenden Akzent, "hat es hier nie gegeben." Darauf stießen wir an.

Vier Wochen später verkaufte der Laden auf der 9th Avenue die Pizza wieder für einen Dollar das Stück.

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Quelle:
SZ vom 07.09.2019
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