Süddeutsche Zeitung

New York:Wo Alzheimer-Patienten, Kinder und Manager kämpfen

Das Profiboxen hat seinen Ruf verspielt. Aber warum ist die Sportart nun bei Frauen, Kindern und Älteren so populär? Ein Besuch bei Rocky Balboas Erben im berühmten Gleason's Gym.

Von David Pfeifer, New York

Es ist Sonntagvormittag, traditionell nicht die intensivste Trainingszeit in einem Boxstudio, aber im Gleason's Gym in Brooklyn ächzen die Sandsäcke. Etwa 20 Menschen schlagen auf sie ein, es sind zwei Gruppen hier, die Alzheimer-Patienten, denen körperliches Training dabei hilft, die Gehirnzellen auf Trab zu halten. Und die autistischen Kinder, die durch Boxen lernen sollen, aus ihrer beengten Weltwahrnehmung auszubrechen.

Es ist der Alltag in einer Boxschule. Das kleine Boxen, abseits der Scheinwerfer. Am 2. Dezember wurde um einen Weltmeistertitel im Schwergewicht gekämpft, von einem der vielen Boxverbände, die keiner mehr überblicken kann. Tyson Fury und Deontay Wilder trennten sich mit einem Unentschieden. Wer Boxen mag und diese Namen trotzdem nicht kennt, muss nicht gleich beunruhigt sein. Die Ära von Ali und Frazier ist lange vorbei. Das Aufflackern von Grandezza, als sich Mike Tyson weiße Tiger hielt, ist auch fast vergessen. Sogar der jüngere der beiden Klitschkos ist mittlerweile zurückgetreten. HBO, der berühmteste Bezahl-Boxsender, hat gemeldet, von 2019 an keine Kämpfe mehr zu übertragen, die öffentlich-rechtlichen Sender in Deutschland zeigen seit Längerem kein Boxen mehr, und in den USA wird Geld und Einschaltquote vor allem mit den Käfig-Prügeleien der UFC gemacht. Im Gleason's, einem der bekanntesten, traditionellsten Box-Gyms der Welt, aber steht der Betreiber, Bruce Silverglade, 74, deutet in die Runde der Trainierenden und sagt: "Der Laden ist voll, es läuft gut bei mir."

Es hat natürlich etwas schwer Romantisches, dass die ganz Jungen und ganz Alten hier nebeneinander trainieren, um sich besser zu fühlen. Das war ja immer das Versprechen des Boxens, dass es denjenigen, die es ausüben, ein besseres Leben ermöglicht. Und eigentlich hat nie jemand behauptet, dass ein besseres Leben immer Reichtum und weiße Tiger bedeuten muss. Es kann auch genügen, dass der Körper auf eine Weise trainiert wird, die sich seit der Antike kaum verändert hat. Als die alten Griechen sich im Pankration miteinander gemessen hatten, galt das Boxen sogar als edelste Form der Auseinandersetzung. Später löste es in seiner modernen, englischen Form die Duelle mit Säbeln oder Pistole ab, die für die Beteiligten meistens übler ausgingen als eine Hauerei.

Wenn man sich eine Weile im Gleason's herumdrückt, hat es den Anschein, als ginge die Entwicklung wieder in diese Richtung. Bei Bruce Silverglade trainieren immer mehr Frauen und Kinder. Auch Männer ab 40, die in der sogenannten Master Class Division gegeneinander antreten. Im Fußball würde man "Alte Herren" dazu sagen; hier sind es ehemalige Boxer und Spätberufene, die es noch mal wissen wollen. Silverglade bietet auch Gruppen für Veteranen an, die im wirklich fortgeschrittenen Alter trainieren. Den Wettkampf gegen die Zeit kann niemand gewinnen, irgendwann ist man zu alt, die Reflexe sind zu eingeschränkt, um sich wettbewerbsmäßig zu prügeln. Das bedeutet aber nicht, dass man zu alt wäre zum Boxen.

Es ist ja nicht nur eine Form von Wettkampf, sondern auch eine besondere Art, Stärke und Charakter zu schulen. Wer boxt, arbeitet nie in erster Linie an der Überwindung eines Gegners, sondern immer an der Überwindung des eigenen Schweinehundes. Und ein Sieg über den kann sehr süß schmecken. Das verbindet die autistischen Kinder, die Alzheimer-Patienten und die Manager von der Wall Street, die nach Feierabend die Krawatten gegen Bandagen tauschen.

Nur mit dem Nachwuchs für Wettkämpfe tut man sich seit Jahren schwer, auch in den USA. "Wir haben mindestens zwei Generationen junger Athleten an Drogen verloren", sagt Bruce Silverglade, der an diesem Sonntag seine Arbeitskleidung trägt, einen Fallschirmspringerseide-Jogginganzug. Weite Teile jener Bevölkerungsschicht, aus der sich früher Boxer rekrutierten, verfielen von den Neunzigerjahren an der epidemischen Drogensucht in den USA. Im ersten Jahrzehnt der Nullerjahre kamen immer weniger hungrige und athletische Jugendliche zu Silverglade ins Gleason's. Zusätzlich fingen die Baseball-, Basketball- und Football-Ligen an, so viel Geld zu zahlen, dass die großen starken Jungs selbst auf der Ersatzbank bei den Yankees mehr verdienten als in den Top Ten der Boxverbände. Bei deutlich weniger Schmerzen. So ist das Wettbewerbsniveau im klassischen Amateurbereich allmählich gesunken, und das Profiboxen entwickelte sich zur Kirmes.

Die unseriösen Weltverbände bei den Profis und Amateuren verschlechterten die Situation weiter. So beschloss beispielsweise der Amateur-Weltverband Aiba Änderungen, die alles nur schlimmer machen: Profis dürfen dort wieder als Amateure antreten, Amateure jedoch keinen Kopfschutz mehr tragen. Zudem wurde gerade ein mutmaßlicher Verbrecher zum Vorsitzenden der Aiba gewählt. Auch das ein ewig wahres Klischee des Boxens: Die bösen Menschen stehen selten im Ring, sondern sitzen außen herum. Das Olympische Komitee hat schon länger angedeutet, dass die olympische Kerndisziplin Faustkampf bald Geschichte sein soll. Bereits für Tokio könnte es eng werden.

"Wenn man in den Siebzigern Weltmeister im Federgewicht war, will man auch mal über die guten alten Zeiten sprechen"

Dass Boxen als Vereinssport zu klein wird, hat Bruce Silverglade frühzeitig begriffen, man muss schon den ganzen Lebensstil anbieten. Boxen taugt nun mal als Bild für alles, was ein menschliches Schicksal so ausmacht. Reden Politiker, Schauspieler und Wirtschaftsbosse nicht immer von Tiefschlägen, wenn es wieder mal nicht läuft? Wird nicht auch im Alltag andauernd jemand angezählt, ist mit einem blauen Auge davongekommen oder liegt im Clinch mit jemandem? Alles Begriffe aus dem Boxen, die als gesellschaftliche Zuschreibungen herhalten, wenn es ums Existenzielle geht.

Bei Bruce Silverglade im Gleason's kommen noch regelmäßig Box-Veteranen vorbei, "wenn man in den Siebzigern Weltmeister im Federgewicht war, will man auch mal über die guten alten Zeiten sprechen. Sonst kennt einen ja keiner mehr." Für die einzigartige Atmosphäre im Gleason's ist das natürlich genauso wichtig wie die Aktiven, die es hier schon auch noch gibt. Denn natürlich wollen die Manager dort lieber Hanteln stemmen, die von jahrzehntelangem Training abgewetzt wurden und bereits schwer in den Händen eines Weltmeisters gewogen haben.

Dabei ist das Gleason's bereits zwei Mal umgezogen. Das merkt man allerdings nicht, denn es wird immer wieder genauso aufgebaut, als würde es an dem neuen Standort bereits seit Jahren vor sich hinächzen. Nicht unwichtig, zumal "das Gym häufig als Kulisse in Boxfilmen auftaucht", wie Silverglade erzählt. Von denen gibt es ja nach wie vor einen pro Jahr. Im vergangenen Jahr spielte Miles Teller den Weltmeister Vinny Pazienza in "Bleed for This", zwei Jahre zuvor brachte sich Jake Gyllenhaal in Form, um in "Southpaw" einen Boxer zu spielen. Und im Januar 2019 kommt "Creed II" in die Kinos, der mittlerweile achte Teil der "Rocky"-Saga. Und vielleicht ist es ja auch ganz richtig, dass Boxen als Metapher für das Leben mittlerweile besser funktioniert als live. Man muss sich ja nicht gleich hauen, nur weil man kämpfen möchte.

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Quelle:
SZ vom 15.12.2018/ick
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