Ostdeutschland:Geh doch rüber

Ostdeutschland: Die Sonne geht auf, und Dresden dank der neuen Zuzügler nicht unter.

Die Sonne geht auf, und Dresden dank der neuen Zuzügler nicht unter.

(Foto: Sebastian Kahnert/AP)

Neue Jobs und alte Freunde bewegen viele Ostdeutsche zur Rückkehr. Wo früher vom Abriss geredet wurde, gibt es nun Andrang bei den Meldeämtern.

Von Cornelius Pollmer, Dresden

  • Seit dem Mauerfall sind fast zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen oder ins Ausland gegangen - seit 2012 aber ist der Wanderungssaldo im Osten positiv.
  • Die aktuell gute wirtschaftliche Lage und der Bedarf an Arbeitskräften erleichtert potenziellen Rückkehrern die Entscheidung.

Vor ein paar Jahren wurde in Sachsen-Anhalt die Initiative "Pro Holzweg" gegründet, ihre Gründer forderten die Renaturierung des Landes und sie zeigten auf, wie diese gelingen könnte: Die Landesregierung müsse alle Gelder für Bildung, Kultur et cetera streichen und sie "zu 100 Prozent der Bewaldung des Landes" widmen. Nur so könne Sachsen-Anhalt "schon bald wieder in eine blühende Landschaft" verwandelt werden. Der Vorschlag, dies der Vollständigkeit halber, kam von zwei Künstlern, er war satirische Kritik an der Kulturpolitik der schwarz-roten Landesregierung. Die Reaktionen: Lachen, Zorn. Einige fragten aber auch, nur halb im Spaß, warum eigentlich nicht?

Kein Bundesland hat seit der Wiedervereinigung einen größeren Teil seiner Bevölkerung verloren als Sachsen-Anhalt - mehr als 20 Prozent. Und trotzdem war Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) guter Dinge, als er vor ein paar Wochen beim Neujahrsempfang in Magdeburg zu einer nicht ganz kurzen Rede ansetzte.

Die Bevölkerung in Sachsen-Anhalt schrumpft

"Wir haben es aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung geschafft, dass mehr Menschen zu uns ziehen als von hier weg", sagte er feierlich im Palais am Fürstenwall. Es sei ein "Trendwechsel" zu beobachten, der einen "mit Stolz erfüllen" könne. Für einen Moment erschien es, als würde Haseloff sein Land nun zur Boomregion ausrufen. Stattdessen aber sagte er, man könne mit Blick auf das Jahr 2025 zumindest sagen, "dass wir entgegen bisheriger Berechnungen mehr als zwei Millionen Einwohner im Lande Sachsen-Anhalt aufweisen werden".

Es wird, vereinfacht gesagt, in Sachsen-Anhalt immer noch so viel gestorben, dass die Bevölkerung insgesamt schrumpft. Zumindest der Wanderungssaldo der Lebenden aber ist inzwischen positiv. Im Jahr 2014 etwa zogen 50 913 Menschen nach Sachsen-Anhalt, doch nur 46 576 zogen fort. Die Entwicklung in Haseloffs Bundesland passt damit ins Bild einer Studie, die das Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung in der vergangenen Woche vorgestellt hat. Seit dem Mauerfall sind fast zwei Millionen Ostdeutsche in den Westen oder ins Ausland gegangen - seit 2012 aber ist der Wanderungssaldo im Osten positiv. Auch die Forscher schreiben von einer "Trendwende".

Die Umkehr im Gesamtsaldo ist vor allem mit der Entwicklung in den großen Städten des Ostens zu erklären. Der generelle Drang in urbane Zentren bringt auch den Meldeämtern in Jena und Leipzig, Dresden und Potsdam positive Zahlen. Viele junge Menschen, gerade solche aus ländlichen Regionen, ziehen für die Ausbildung oder zum Studium dorthin - und anders als früher bleiben viele von ihnen da, weil der Arbeitsmarkt es hergibt.

Dass das Wachstum sich auf diese wenigen großen Städte konzentriert, zeigt die Statistik: In nur 15 Prozent der ostdeutschen Gemeinden lebten im Jahr 2013 mehr Menschen als sechs Jahre zuvor. Etwa 85 Prozent der Gemeinden verlieren also nach wie vor Einwohner. Die positive Gesamtbilanz überdeckt das zunehmende Gefälle zwischen Wachstumszentren und schrumpfenden Regionen.

"Ja, die sind halt alle schon weg"

Thilo Lang vom Leibniz-Institut für Länderkunde ist denn auch skeptisch, was das Wort der "Trendwende" anbelangt. Zwar glaubt auch er, dass die "Abwanderungskultur" sich in vielen Regionen als ein temporäres Phänomen erwiesen habe oder sich noch als solches erweisen werde. "Auf der anderen Seite, sarkastisch formuliert: Ja, die sind halt alle schon weg, deswegen können ja gar nicht mehr so viele gehen."

Lang forscht seit Jahren zu Rückkehrern und deren Motiven. Für Abwanderer dominieren die Ziele Bildung und Einkommen, bei Rückkehrern ist es vor allem die Nähe zu Familien und Freunden - wer zurückkommt, ist tendenziell bereit, für diese Nähe finanzielle Einbußen hinzunehmen. Auch diese Motivlage ist in Betracht zu ziehen, will man die Nachhaltigkeit der Wanderung bewerten.

Die aktuell gute wirtschaftliche Lage und der Bedarf an Arbeitskräften auch im Osten erleichtert potenziellen Rückkehrern die Entscheidung, dem Wunsch nach Nähe zu Familien und Freunden zu folgen. Lang sagt aber auch: "Wenn Deutschland in eine Rezession geraten würde, dann wären die Regionen in Ostdeutschland vermutlich als erste betroffen, und dann könnte sich auf einen Schlag auch alles wieder ändern."

Faktisch keine zwingenden Gründe zur Abwanderung

Dem Wissenschaftler Lang ist aufgefallen, dass einige strukturschwache Regionen auch dann noch unter Abwanderung leiden, wenn es ökonomisch dafür keine zwingenden Gründe mehr gibt. "Es gibt Wende-Verlierer-Geschichten, die von Großeltern und Eltern auf Enkel übergehen, die Enkel verinnerlichen das", sagt Lang. Letztlich bedeutet das: Auch wenn es faktisch gar keine zwingenden Gründe mehr gibt zur Abwanderung, so setzt sie sich fort. Eben weil man seit Jahrzehnten immer schon abgewandert ist.

Die Erfahrungen derer zumindest, die schon zurückgekehrt sind, geben bislang ein recht deutliches Bild ab. In einer Studie des Leibniz-Instituts ermittelte Lang, dass sich fast 75 Prozent der potenziellen Rückkehrer einen Umzug zurück in den Osten als mindestens schwierig vorstellen - zwei Drittel der bereits Zurückgekehrten hingegen sagen, die Rückkehr sei ihnen leicht oder sehr leicht gefallen.

Die neuen Länder werben um ihre verlorenen Söhne und Töchter

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SZ-Grafik

Mit solchen Erfahrungen lässt sich hausieren gehen, und die neuen Länder werben ja auch seit Jahren um ihre verlorenen Söhne und Töchter. Sogenannte Rückholagenturen wie "mv 4 you" in Mecklenburg-Vorpommern sollen Abwanderer mit Arbeitgebern in Verbindung bringen. Sachsen betreibt das Fachkräfteportal "Sachse komm zurück", der ehemalige Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) ließ sich gar auf einen Rastplatz der A 72 im Vogtland fahren, um Pendler mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Eierschecke ins Agitationsgespräch zu locken.

Noch aber gehört es zur wochenendlichen Realität, dass die Autobahnen am Sonntag in der Regel gen Westen und Süden voll sind. Als Teil einer Schicksalsgemeinschaft darf sich dann fühlen, wer ab 18 Uhr im Radio die "MDR Jump Pendlershow" anstellt - mit mal liebevollen, mal traurigen Grüßen an all die, die dem Ruf der Eierschecke noch nicht gefolgt sind.

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