Süddeutsche Zeitung

Neue Bräuche und Rituale:Die Deutschen treiben es gerne bunt

Halloween, Flitterwochen für Schwangere, Scheidungspartys: Die Menschen in Deutschland entdecken neue Rituale und übernehmen Bräuche aus anderen Ländern. Und haben dabei auch noch Spaß.

Von Jakob Schrenk

Der 31. Oktober ist ein guter Tag, um kulturkritisch zu werden. Kinder ziehen dann in der Dunkelheit von Haus zu Haus und verlangen Süßigkeiten. Jugendliche verkleiden sich grässlich und trinken Alkohol. Am Schlimmsten ist, dass es sich dabei noch nicht einmal um einen guten deutschen Brauch handelt! Die Iren haben Halloween erfunden. Über die USA ist das Fest in den vergangenen Jahren nach Deutschland gekommen. Solche Beispiele gibt es viele. Der angelsächsische Junggesellenabschied hat den deutschen Polterabend abgelöst. Mittlerweile veranstalten werdende Mütter auch in Deutschland "Baby Partys", "Baby Shower" genannt, auf denen sie sich mit Strampelanzügen und Schnullern beschenken. Wir stellen hier sechs weitere neue oder neu entdeckte Rituale vor. Sind sie nun Zeichen eines Kulturverfalls?

Der Soziologe Markus Schroer, Professor an der Universität Marburg, konstatiert ganz nüchtern, dass christliche Lebensregeln - freitags kein Fleisch, sonntags Gottesdienst - an Bedeutung verlieren. Deutschland wird zu einem atheistischen Land. Rituale aber sind nach wie vor gefragt, nur eben andere. Der moderne Mensch ist eine hochindividualisierte Selfie-Persönlichkeit und mag sich nicht zwangsweise der örtlichen katholischen Kirche anschließen. In der Gemeinschaft Gleichgesinnter geht er aber immer noch gerne auf, gründet einen Fanklub oder feiert jedes Jahr wieder mit denselben Leuten ein Maskenfest. Gemeinsame Handlungen begründen und stärken solche Gruppen. Und wenn der Ablauf immer gleich ist, muss man nicht so viel nachdenken, das kann manchmal ganz erholsam sein.

Die neuen Rituale zeigen auch, wie offen, multikulturell und weltbürgerlich die Deutschen geworden sind. Weil wir verreisen und fremde Bräuche am Ort selbst erleben, weil wir Freunde aus unterschiedlichsten Ländern haben und weil wir ganz einfach viel fernsehen. Schroer kennt noch einen Grund, warum man sich über die neuen Rituale nicht grämen, sondern freuen kann - und warum man den Kindern nächstes Wochenende besonders viele Süßigkeiten schenken sollte: "Der Mensch spielt, feiert und tanzt eben gern, und lässt sich dies auch nicht nehmen. Was wir derzeit wahrnehmen können, ist die Rückeroberung des Dionysischen."

Uni-Abschluss

Die Revolution begann am 9. November 1967 mit einem Transparent aus schwarzer Kunstseide. Der Student Gert Hinnerk Behlmer schmuggelte das mit Buchstaben aus Leukoplast beklebte Spruchband ins Audimax der Universität Hamburg. Auf dem Transparent stand: "Unter den Talaren - Muff von 1000 Jahren". Das war das Ende von Zucht, Ordnung und seltsamen Kleidern an den Unis.

Doch seit der Jahrtausendwende kommen in Deutschland wieder große, gediegene Abschiedsfeiern für Doktoranden, Diplomanden oder Bachelor-Absolventen in Mode. Die Bewegung begann an den privaten Wirtschaftshochschulen, die nach amerikanischem Vorbild gestaltet sind, und erreicht nun auch die Massenuniversitäten. Man zeigt sich im vollen Ornat, mit knöchellangem Talar, auf dem Kopf das Barett. Es gehe um eine würdevolle Verabschiedung, heißt es, um einen feierlichen Rahmen für einen wertigen Abschluss.

Zumindest muss man keine Angst haben, dass mit den alten Gewändern auch die alten Sitten zurückkehren. Die Studenten im Talar kopieren nicht die Rituale ihrer Urgroßväter. Sie imitieren das, was sie in amerikanischen College- und Uni-Filmen gesehen haben. (Jana Stegemann)

Baby-Moon

Früher sind Menschen einfach in den Urlaub gefahren - heute gibt für jeden das passende Event. Junge fahren auf Jugendreise, fünf Tage Calella mit Sangria, Strand und Enrique, der ersten Ferienliebe. Alte fahren auf Seniorenreise, fünf Tage Rom mit Montepulciano, kapitolinischen Museen und Generalaudienz beim Papst. Alleinstehende begeben sich auf Single-Kreuzfahrten, kinderlose Paare ins Liebes-Resort auf die Seychellen. Und werdende Eltern? Machen Babymoon.

Der Trend aus den USA hat Europa längst erreicht. Die Angebote beginnen bei zwei Übernachtungen mit Frühstück und Zugang zum Spa-Bereich und enden mit einem in wattierte Worte verpackten Wahnsinn aus Dehnungsstreifen-Massage, Geburtsvorbereitungskurs und einstündigem Papa-Training mit Kinderwagenführerschein. Es gibt Hotels, in denen künftige Mütter und Väter die "letzten Tage zu zweit" genießen sollen. Da grüßt die Endzeitstimmung ganz entspannt aus der Besucherritze. Andere Angebote wie das "Gespräch mit Hofhebamme Linda", das Sie "organisiert und gelassen durch Wochenbett und Stillzeit" kommen lässt, sind vorwärtsgewandter, klingen aber arg nach Familien-Bootcamp. Da schon lieber Babyklamotten kaufen mit Personal Shopper in Florenz.

Denkt man die Sache mit dem Event-Urlaub zu Ende, ist klar, was nach der Geburt des ersten Kindes ansteht: Jahre im Familienhotel. Da ist ein bisschen präventive Entspannung vielleicht gar nicht so verkehrt. (Felicitas Kock)

Fest der Farben

Indien ist ein erfolgreicher Exporteur merkwürdiger Rituale. Millionen von Europäern und Amerikanern verrenken sich beim Yoga die Glieder. Beim neuesten Trend vom Subkontinent geht es aber nicht darum, einen schmerzfreien Rücken zu bekommen. Das Ziel ist: ausrasten.

Seit Urzeiten feiern die Inder das sogenannte Holi-Fest. Man begrüßt am ersten Vollmondtag des Monats Phalgun (bei uns im Februar oder März) den Frühling und soll sich auch gleichzeitig mit den Mitmenschen versöhnen. Über Indienfans kam die Party in die westliche Welt. 25 000 Menschen feierten dieses Jahr auf einem Holi-Festival in London, aber auch so gut wie jede deutsche Kleinstadt und sogar Dubai zogen nach. Das Prinzip: laute Musik; ab und zu zählt ein Moderator einen Countdown herunter, bei null werfen alle buntes Pulver aus gefärbtem Maismehl in die Luft und auf die Mitfeiernden.

Für die spirituelle Seite des Fests interessiert man sich weniger - aber das ist ja beim Yoga ähnlich. Tatsächlich passt Holi gut in die Zeit. Auf Partys will man nicht nur Spaß haben, sondern diesen Spaß auch per Foto dokumentieren. Und die Bilder farbverschmierter Tanzender sehen einfach großartig aus. (Luisa Seeling)

Scheidungsparty

Der Markt ist groß: Mehr als ein Drittel der in Deutschland geschlossenen Ehen werden wieder geschieden, 2014 waren es knapp 170 000. Macht also 340 000 potenzielle Gastgeber von Scheidungspartys. Wie so oft kommt die Inspiration aus den USA, wo viele Wedding-Planner mittlerweile auch Scheidungspartys im Programm haben. Manche Kunden wenden für das Fest ähnlich viel Mühe und Geld auf wie für die Hochzeit, inklusive Location Scout, Stylist, professionelles Catering und DJ.

In Deutschland entsteht gerade eine eigene Industrie für diese Feste und für die dazupassenden Accessoires: einen Mini-Sarg, in den man den Ehering legen kann, und eine Torte mit der Zuckergussaufschrift "Just divorced". Als Unterhaltungsprogramm werden Events wie das Verbrennen der Klamotten von Exmann oder Exfrau angeboten. Man kann aber auch Dart-Pfeile auf ein Foto der ehemals geliebten Person werfen. Die Idee: Die frisch Geschiedenen sollen mit der alten Beziehung abschließen, ihren Frieden finden, um den Blick dann nach vorne richten zu können. Vielleicht ist das ja kein schlechter Einfall: Wenn man den Anfang einer Beziehung feiert - warum dann nicht auch das Ende? (Laura Hertreiter)

Erster Schultag

"Papa?", fragt das Kind. "Heute gehen alle mit ihren Familien essen. Warum wir nicht?" Es ist der Tag der Einschulung. Ein unfassbar wichtiger Tag in Deutschland. Alle Kinder lernen lesen. Indianer und Chinesen. Wer hat die größte Schultüte? Was ist drin? Wer darf im Einschulungsgottesdienst zur Pfarrerin nach vorne? Wer nicht? Selbst am Nordpol lesen alle Eskimos. Hallo Kinder, es geht los. Wer ist wie angezogen? Wer sitzt in der Klasse vorne? Wer hat den besten Ranzen, das coolste Mäppchen? Wer isst in welchem schicken Lokal?

"A", sagt der Affe, wenn er in den Apfel beißt. Die hässliche Schultüte, die ich auf meinem Einschulungsfoto halte, die war gar nicht von mir. Die hatte der Schulfotograf damals mitgebracht. Für alle. Von den blauen Bergen kommen wir. Unsere Lehrer sind genau so doof wie wir. Am ersten Schultag aß ich, wie die kommenden zwölf Jahre, mittags bei meiner Großmutter. Meine Eltern hatten keine Zeit. Danach bin ich mit meinen Kumpels allein im Wald spielen gegangen. Meine Haare waren fettig. Meine Jeans kaputt. Schule ist 'ne Sauerei. Wir wollen Hitzefrei. Waren auch alles Rituale. Und Rituale sollen vor allem: den Menschen entspannen. (Martin Zips)

Alternative Taufe

Jahrhundertelang begrüßten die Menschen in der westlichen Welt einen neuen Erdenbürger auf die gleiche Weise: Man schüttete ihm Wasser über den Kopf, der Pfarrer murmelte einen Segensspruch, und danach gab es Kaffee und Kuchen und vielleicht auch Bier für die Gäste.

Mittlerweile werden nur noch knapp die Hälfte aller Kinder getauft. Gleichzeitig waren Eltern noch nie in der Geschichte der Menschheit so stolz auf ihr Neugeborenes. Das Interesse an einem feierlichen Ritual ist also groß. Man kann beispielsweise Schamanen buchen, die mit den Eltern ums Lagerfeuer tanzen und um göttlichen Segen für das Kind bitten. Manche Eltern verzichten auf geistlichen Beistand und gestalten die Zeremonie gleich selbst: Die Gäste pflanzen Bäume und tragen ihre Wünsche für das Baby vor.

Übrigens berichten schon die Gebrüder Grimm von einem alternativen Taufritual. Im "Dornröschen" heißt es: "Die Königin gebar ein Mädchen, das war so schön, dass der König seine Freude kaum fassen konnte und ein großes Fest veranstaltete. Er lud nicht nur seine Verwandten, Freunde und Bekannten, sondern auch die weisen Frauen dazu ein, damit sie dem Kind hold und gewogen wären." (Anna Günther)

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Quelle:
SZ vom 25.10.2014/kfu
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