Süddeutsche Zeitung

Netzphänomen:Wein statt Weinen

Lesezeit: 3 min

Mit kleinem Schwips die Krise meistern? Seit Beginn der Corona-Zeit sorgt das Phänomen der "Wine Mom" im Netz für große Heiterkeit.

Von Silke Wichert

"Wenn Sie denken, 2020 ist gefährlich: 2050 wird das Land von Kindern geführt, die von weintrinkenden Müttern zu Hause unterrichtet wurden." Es war nur einer unter vielen Witzen, die in den ersten schulfreien Corona-Wochen im Netz geteilt wurden, aber er kam in den Whatsapp-Gruppen besonders gut an. Kommentiert wurde mit Tränen lachenden Smileys und, klar, jeder Menge Weinglas-Emojis.

Gemeint waren die berüchtigten "Wine Moms". Mütter, die sich abends gern mal ein, zwei Gläser genehmigen, um den Familienstress auf die leichte oder eben leicht angeschickerte Schulter nehmen zu können. Gelegentlich wurde auch der Tag zum neuen Abend erklärt und schon nachmittags eingeschenkt, dank des breiigen Zeitgefühls im Lockdown war ja jetzt eh irgendwie alles gleich.

Mit freundlicher Unterstützung von Chips, Yoga, Gin, Wein.

Wine Moms gab es vorher schon, ihnen sind sogar eigene Instagram-Accounts gewidmet, ihr Lieblingsfilm ist die Hollywood-Komödie "Bad Moms", doch dank Corona schien ihre Zahl sprunghaft anzusteigen. Zumindest die Witze im Netz dazu vermehrten sich rasant und wurden massenhaft geteilt. Zuerst war da diese Mutter, die den Song "I Will Survive" auf das Familienleben in der Quarantäne ummünzte und mit ihrer Parodie einen viralen Hit landete.

Die Engländerin Victoria Emes tanzte im Aerobicdress durchs desolate Wohnzimmer und rief ihren Schwestern in der häuslichen Isolation aufmunternd zu, dass sie das schon irgendwie überleben würden - mit freundlicher Unterstützung von Chips, Yoga, Gin, Wein.

Das mit dem Alkohol wusste Herbert Grönemeyer natürlich schon in den Achtzigern, aber der ist halt ein Mann und deswegen in den meisten Fällen immer noch nicht so sehr vom Homeschooling betroffen wie die Frau, die an Tag 782 der Quarantäne morgens beim Frühstück versucht, das Stammeln ihres Kindes zu dechiffrieren und sich irgendwann resigniert noch mehr Weißwein in die Honey Loops schüttet. Das war auch so ein virales Video.

Und dann gab es da noch diese Frau, die zeigte, wie man für erfolgreiche Zoom-Meetings Teebeutelfäden an Tassen klebt, die in Wahrheit mit Wein gefüllt sind. Nicht nur die Familie will schließlich ertragen werden, die lieben Kollegen auch.

Es gibt einen Haufen solcher Clips, viele finden sie offensichtlich lustig - obwohl die Botschaft, dass mit Alkohol alles leichter geht, bei aller Witzelei natürlich nicht ganz unbedenklich ist. Zumal wenn man Verantwortung für Kinder hat. Bislang gibt es allerdings keine Studien darüber, dass Mütter tatsächlich mehr trinken als andere Bevölkerungsgruppen.

Bier trinkende Väter? Zu normal.

Und statistisch gesehen dürften da draußen mindestens so viele "Beer Dads" unterwegs sein. Dass die es bislang nicht zur popkulturellen Witzfigur gebracht haben, liegt wahrscheinlich schlicht daran, dass bei ihnen das Frusttrinken seit Langem eingeführt und gesellschaftlich akzeptiert ist. Womöglich ist die Wine Mom, die es den Männern nun ansatzweise gleichtut, einfach nur ein weiteres Stückchen in Richtung Gleichberechtigung gegangen.

Ihr fliegen aber auch deshalb so viele Sympathien zu (von trinkenden und nicht trinkenden Müttern wie trinkenden und nicht trinkenden Nichtmüttern und sogar Männern jeder Konsum-Couleur) weil sie weniger perfekt daherkommt als ihre Kolleginnen, die Tiger Mom und Helicopter-Mom. Die Tiger Moms, wir erinnern uns, sind die, die ihren hochbegabten Kindern schon mit drei die Mandarin sprechende Nanny vorsetzen. Während die Helikopter-Mütter ihren Nachwuchs überliebevoll umkreisen und im 360-Grad-Radius ganzheitlich fördern. Beide Spezies machen anderen Eltern erst ein schlechtes Gewissen, dann schlechte Laune.

Die einzige Kurve, die abflachte, war die Motivationskurve

Mit der Wine Mom dagegen - leicht überfordert, leicht einen sitzen - können sich all jene identifizieren, die ebenfalls bisweilen erledigt und gestresst sind - und sich seit dem Lockdown alleingelassen fühlen. Mit unbetreutem Nachwuchs, dem nach Hause verlagerten Büro, dem Haushalt, mit sich selbst, mit allem gleichzeitig. Der Stress ist auch in normalen Zeiten schon spürbar, die Pandemie hat diesen Zustand noch zugespitzt.

Laufend gestehen gerade Mütter auf Instagram: "Ich kann nicht alles!" "Ich bin nicht perfekt!" Wer in den ersten Wochen ohne Kita und Schule noch begeistert Bastelanleitungen und Hefezopfrezepte in die Welt hinausschickte, Yoga vor dem Laptop praktizierte und selbstangerührte Gesichtsmasken auflegte, merkte bald, dass dieses Energielevel nicht ewig halten würde. Während Christian Drosten ständig von der Abflachung der Kurve sprach, sahen viele Mütter ihre eigene Kurve ins Bodenlose sinken: die Motivation ging in den Keller.

Und ja, am Ende des Tages wird die eine oder andere erschöpft gerufen haben: "Wo ist der Deinhard!?" Aber auch diese Entwicklung dürfte jetzt hoffentlich wieder deutlich abgeflacht sein. Wir sprechen uns im Jahr 2050.

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Quelle:
SZ vom 06.06.2020
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