200. Todestag Napoleons:Verdammt weit weg

200. Todestag Napoleons: St. Helena in einer populären Darstellung, London, 1851.

St. Helena in einer populären Darstellung, London, 1851.

(Foto: World Book Inc./mauritius images / World Book In)

Seine letzten Jahre verbrachte Napoleon als verbitterter und zanksüchtiger Verbannter auf St. Helena. Am 5. Mai 1821 starb der Mann, der die Welt aus den Fugen gehoben hatte - doch sein Mythos ist ungebrochen.

Von Kurt Kister

Als sich Napoleon Bonaparte am 2. Dezember 1804 in Notre-Dame zum Kaiser krönte, war er 35 Jahre alt. Als er am 5. Mai 1821 nach gut sechs Jahren in seinem zweiten Exil auf der Insel St. Helena starb, war er gerade mal 51. Der Korse, eher ein Italiener als ein Franzose, hat mit seiner Persönlichkeit, seinen Taten und Worten das 19. Jahrhundert entscheidend geprägt; auch heute, 200 Jahre nach seinem Tod, ist er ein Beispiel dafür, dass nicht nur Strukturen, Wirtschaftsinteressen und Ideologien Geschichte "machen", sondern eben auch einzelne Menschen. Oder, um es simpel und vielleicht provozierend zu formulieren: Frankreich ohne Napoleon ist genauso wenig denkbar wie Deutschland ohne Hitler.

Der Napoleon-Mythos lebt, und zwar nicht nur für jene rund 1,5 Millionen Paris-Besucher, die in normalen, also Nicht-Seuchen-Zeiten, alljährlich von der Galerie hinunter in die Krypta des Invalidendoms schauen. Dort steht seit 1861 das gewaltige Grabmonument des Kaisers, ein fünffacher Sarg, von dem man die klassizistische Außenhülle aus rötlichem Quarzgestein sieht. In Frankreich ist Napoleon bis heute für sehr viele das Symbol vergangener Größe, das durchaus auch für moderne Präsidenten wie die unterschiedlichen und dennoch wesensverwandten Nicolas Sarkozy und Emmanuel Macron in ihrem Selbstverständnis mehr als nur eine marginale Rolle spielt. Und selbst in Teilen der alten anti-napoleonischen Koalition von Moskau, Wien, Berlin und London ist die - und sei es nur eine analytische - Erinnerung an die französische Dominanz vor 200 Jahren nicht erloschen. Gerade für das allemal und stets auf der Suche nach sich selbst befindliche Großbritannien gehört der entschiedene Widerstand, notfalls against all odds, gegen Bedrohungen vom Kontinent zum Selbstverständnis: Napoleon, The Kaiser, Hitler. Auch zum Verständnis der Mentalität, die letztlich zum Brexit geführt hat, kann es nützlich sein zu wissen, dass Waterloo, also Wellingtons Sieg über Napoleon, in Teilen der Gesellschaft Großbritanniens, vor allem Englands, immer noch mehr ist als "nur" Geschichte.

St. Helena sollte verhindern, was Elba nicht verhindert hatte. Nach der entscheidenden Niederlage der Franzosen in der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig vom Oktober 1813 dauerte es noch einige Monate, bevor die Heere der Monarchen vor Paris standen. Der britische Feldherr Wellington hatte nach jahrelangem Krieg auf der spanischen Halbinsel die Franzosen dort geschlagen; Preußen, Russen und viele Kontingente spät von Napoleon abgefallener Herrschaften und Kleinkönigtümer drangen von Osten in Frankreich ein. Hin und wieder lohnt es sich, darüber nachzudenken, dass Bayern oder Württemberg Königtümer von Napoleons Gnaden waren, oder dass Sachsen, wie auch in anderen Abschnitten seiner Geschichte, bis zuletzt, bis zu spät an dem festhielt, was ihm zuvor das Stärkste und das Richtige gewesen zu sein schien. Manches, was bis heute territorial gilt, hat seinen Ursprung in Napoleons Europa beziehungsweise im Versuch des Wiener Kongresses, dieses Europa neu zu ordnen. Napoleons Spuren sind noch sichtbar.

Der Sohn wurde nur 21 Jahre alt

Wer sich tiefer mit diesen Spuren, aber auch mit dem System Napoleon beschäftigen möchte, dem seien einige der vielen neueren Bücher zum Thema empfohlen. Da ist einmal die hervorragende Biografie von Adam Zamoyski "Napoleon. Ein Leben", die 2018 hierzulande verlegt worden ist. Mit mehr als 800 Seiten zwar ein gewichtiges Werk, aber dennoch sehr gut lesbar. Von Johannes Willms wiederum, lange Zeit SZ-Korrespondent in Paris, gibt es seit ein paar Monaten "Der Mythos Napoleon". Willms setzt sich intensiv mit den letzten Jahren des Kaisers, aber auch mit dessen Wirkmächtigkeit für das nachnapoleonische Frankreich auseinander. Beides sind Geschichtsbücher eines Typs, der Lesern und Leserinnen Freude macht. "Auf Napoleons Spuren" von Thomas Schuler, das vor zwei Jahren erschienen ist, entspricht wiederum jenem Typus des lehrreichen, angenehmen Reisebegleiterbuchs, dessen Lektüre einem nicht unbedingt das Gefühl vermittelt, einen Bleistift zum Anstreichen von Textstellen zu brauchen.

Im April 1814 jedenfalls war es aus mit Napoleon - vorerst. Während die Alliierten Paris umzingelt hatten, drängten selbst des Kaisers letzte Getreue Napoleon zur Abdankung. Der Senat setzte ihn am 2. April ab, vier Tage später verzichtete Napoleon auf den von ihm erfundenen Thron zugunsten seines in Wien lebenden, damals gerade drei Jahre alten Sohns. Dessen Mutter war Napoleons zweite Ehefrau Marie-Louise, Tochter des Habsburger Kaisers Franz. Napoleons Feinde allerdings wollten nichts von einer Fortsetzung der Bonaparte-Dynastie wissen. Am 12. April schließlich dankte L'Empereur bedingungslos ab.

Sein Sohn Napoleon François musste zeitlebens in Wien bleiben. Er wurde nur 21 Jahre alt, 1832 starb er an der Tuberkulose im Schloss Schönbrunn. Begraben wurde er in der Wiener Kaisergruft an der Seite so vieler Angehöriger des regierenden Hauses Habsburgs. Dort verblieb der Leichnam bis 1940. Als die Deutschen in eben jenem Jahr Paris erobert hatten, ließ Adolf Hitler, ein Napoleon-Mystiker, den Sarg des kleinen Napoleon aus Wien nach Paris schaffen. Seitdem ist auch der, der Napoleon II. hätte werden sollen, wie sein Vater im Invalidendom bestattet. Europa ist manchmal seltsam.

Obwohl Napoleon, der selbsternannte Kaiser, der sich stets als die Personifizierung der Ziele der französischen Revolution verstanden hatte, die größte Bedrohung für das alte Feudalsystem des Kontinents war, gaben ihm die Monarchen und Fürsten 1814 als Exil dennoch ein Kleinkönigtum, in dem er seine Tage friedlich beenden sollte. Die Insel Elba gehörte im April 1814 noch zu Frankreich; 1802 war Elba in dem vom damaligen Ersten Konsul Napoleon Bonaparte unterzeichneten Frieden von Amiens der jungen Republik zugefallen. Die etwa zehn- bis zwölftausend Einwohner Elbas fühlten sich nicht sehr französisch. Als aber dann der exilierte und abgedankte Kaiser die Insel als Fürstentum zugesprochen bekam, erhoffte man sich dort neuen Wohlstand. Zwar setzte Napoleon manche Reformen ins Werk, aber der Aufschwung ließ auf sich warten.

Ein Schauder auf Elba

Kommt man heute nach Elba, erlebt man eine prosperierende Touristenökonomie, die vom Kaiser nur noch so weit beflügelt ist, als dass sehr viele Menschen den vorübergehenden Regierungssitz Napoleons in Portoferraio besuchen. Wer selbst einen Hauch von Sinn für den Mythos verspürt, kann durchaus ein wenig erschauern im Angesicht der Bibliothek des Kaisers oder anderer Relikte.

Natürlich sollte sich der Exilant Napoleon auf Elba eigentlich aller Dinge von nationaler oder gar internationaler Bedeutung enthalten. Der einstige Herrscher Europas verfügte auf der Insel über eine Armee von 1000 Mann, die meisten Veteranen der vielen Feldzüge. Von Portoferraio aus machte sich Napoleon dennoch ein Bild davon, was nach seiner Vertreibung in Frankreich geschah. Die Restauration der Bourbonen-Monarchie mit Ludwig XVIII. geriet zum Desaster. Unter den zum größeren Teil entlassenen Beamten und Offizieren Napoleons gärte es, Teile des Adels kehrten aus dem Exil zurück und forderten ihre alten Besitztümer, die seit der Revolution entmachtete katholische Kirche erhob Ansprüche, Steuern wurden erhöht - die Spaltung der Gesellschaft vertiefte sich, während der König ein Leben führte, wie es den Vorurteilen vom feisten, der Realität enthobenen Monarchen entsprach.

"Despot" und "Ungeheuer"

Am 1. März 1815 betrat Napoleon nahe Antibes wieder den Boden Frankeichs; er war mit einer sehr kleinen Streitmacht mit einem Schiff und ein paar Booten ein paar Tage zuvor der nicht sehr aufmerksamen maritimen Bewachung seines Herzogtums Elba entkommen. Auf dem Weg nach Paris hatte der wiedergekehrte Kaiser viel Zulauf, der König suchte das Weite, und Napoleon etablierte sich noch einmal in der Hauptstadt. Allerdings war er nicht mehr, wie Zamoyski schreibt, "der Mann, der die Nation elektrisieren konnte". Nur mit Mühe gelang es ihm, eine neue, alte Regierung aufzustellen; viele hatten sich von ihm abgewandt. Die Mächte der Koalition wollten sich auf keinen Fall auf Verhandlungen mit dem "Ungeheuer" und "Usurpator" einlassen; ihre Truppen sollten ihn noch einmal und diesmal endgültig schlagen.

Portrait of Napoleon I 1769 1821 on the island of St Helena Napoleon Ier sur l ile de Sainte Hele

Gefangen in der Vergangenheit: Der alte Napoleon blickt von St. Helena aus sehnsüchtig in die Ferne.

(Foto: imago stock&people/imago/Leemage)

Mit einer Armee aus zurückgeholten Veteranen und neuen Rekruten marschierte Napoleon nach Nordosten, um die in der Gegend von Brüssel stehenden Briten nebst Verbündeten sowie die ebenfalls anmarschierenden Preußen unter dem Feldmarschall Blücher zu schlagen. Bei Ligny und Quatre-Bras behielten die Franzosen in zwei Schlachten noch die Oberhand; bei Waterloo aber brachten dann am 18. Juni 1815 Briten und Preußen, Niederländer, Hannoveraner und etliche Kontingente anderer Kleinstaaten den Franzosen die große Niederlage bei. Zwar war damit für Napoleon alles verloren, aber Waterloo, das katastrophale Ende, gehört genauso zum Mythos des aus dem Nichts aufgestiegenen Artillerieleutnants aus Korsika wie seine Kaiserkrone und die Dekade nahezu absoluter Dominanz über Europa.

In den Tagen nach Waterloo hoffte Napoleon auf ein Exil in England oder in den Vereinigten Staaten; dafür ließ er zwei Fregatten bereitstellen. Die Sieger allerdings wollten ihn dieses Mal so weit wegschaffen, gewissermaßen im Meer begraben, dass eine Rückkehr unmöglich sein sollte. Die Wahl fiel auf St. Helena, eine Insel im Südatlantik, rund 1900 Kilometer westlich von Angola und mehr als 3000 Kilometer östlich von Brasilien. Die Insel gehörte damals der britischen Ostindien-Gesellschaft; für die Zeit von Napoleons Exil übernahm sie de facto die britische Armee. Bis zu 2000 Soldaten sollten an diesem wirklich verlassenen Flecken zu Lande und zu Wasser dafür garantieren, dass Napoleon diese Insel nie wieder verließ. Er tat es auch nicht mehr, jedenfalls nicht lebend.

Ein Kleinkrieg um Statusfragen

Napoleons sechs Jahre im Longwood House auf St. Helena hatten auch Züge einer tragischen Farce. Der Mann, der einst Europa beherrschte, lieferte sich mit seinem obersten Bewacher, dem britischen General und Insel-Gouverneur Hudson Lowe, einen erbitterten Kleinkrieg um Statusfragen, Besucher oder darum, wie weit sich Napoleon vom Haus entfernen durfte. Lowe sprach Napoleon grundsätzlich nur mit "General" an, weil er ihm andere Titel, gar den des Kaisers, verweigerte. Napoleon seinerseits tat nichts, um das Verhältnis irgendwie zu verbessern, im Gegenteil. Bis heute gibt es - in Großbritannien noch mehr als in Frankreich - unter der längst unüberschaubaren Napoleon-Literatur eine ganze Unterabteilung über die Geschehnisse auf St. Helena.

Selbst im Vergleich zu Elba war der "Hofstaat" Napoleons auf St. Helena mit kaum zwei Dutzend Menschen verschwindend gering. Am prominentesten unter seinen Begleitern, zu denen auch drei Generäle gehörten, wurde Emmanuel de Las Cases, ein Marineoffizier und Publizist, der in den ersten anderthalb Jahren des Exils Napoleons bevorzugter Gesprächspartner war. Las Cases redete anderthalb Jahre lang nahezu jeden Tag mit Napoleon und notierte, was immer dieser sagte. Nachdem Gouverneur Lowe den Chronisten Las Cases, der sich über Napoleons Lebensbedingungen beklagt hatte, 1816 zur Abreise gezwungen hatte, veröffentlichte Las Cases 1823 sein "Mémorial de Sainte-Hélène". Es ist wohl das Wichtigste unter den Büchern, die fast jeder, der mit Napoleon auf St. Helena war, veröffentlichte.

Johannes Willms analysiert in seinem Buch sehr eindrücklich, wie Las Cases' Werk, das schon Heinrich Heine ein "Evangelium" zur Interpretation Napoleons genannt hatte, einen eigentlich liberalen Feldherrn und Politiker zeichnete, der im Sinne der Ideale der Revolution gehandelt habe und nicht als Diktator und Militärherrscher. Las Cases fügte diesem Bild später nach Gutdünken etliches, was er Napoleon zuschrieb, noch dazu. Der Exilant selbst, aber auch Las Cases und die anderen Memoirenschreiber arbeiteten auf der Insel im Atlantik intensiv am Bild des guten Napoleon, das man der Nachwelt überlassen wollte. Vor allem Las Cases' "Mémorial" wurde schnell populär; es spielte eine erhebliche Rolle bei der ideologischen Renaissance des Bonapartismus in Frankreich, der letztlich seinen Höhe- und gleichzeitig Tiefpunkt mit Napoleon III., dem Neffen des Mannes von Austerlitz und Waterloo fand.

Louis Napoleon, zweimal gescheiterter Putschist, hatte als autoritär denkender Populist immerhin das richtige Gespür dafür, dass eine Mehrheit im Frankreich der 1850er-Jahre ein großsprecherisches, neues Kaisertum dem diskreditierten Königshaus, aber auch der Republik, vorziehen würde. Nach Staatsstreich und Plebiszit rief der dritte Napoleon 1852 das zweite Kaiserreich aus. Anfängliche Erfolge dauerten nicht an; Napoleon III. wurde mehr und mehr zum Sinnbild des Niedergangs Frankeichs, wie ihn Émile Zola in seiner großen Romanfolge über die Familie Rougon-Macquart beschrieb: Gier, Korruption, Laster und schließlich 1870 der Zusammenbruch.

"Er, dem die Erde zu eng war ..."

Am 5. Mai 1821 starb Napoleon Bonaparte im Longwood House vermutlich an Magenkrebs. Im zweiten Band seiner "Reisebilder" schrieb Heinrich Heine 1826: "Der Kaiser ist tot. Auf einer öden Insel des indischen Meeres ist sein einsames Grab, und er, dem die Erde zu eng war, liegt ruhig unter dem kleinen Hügel..." Dass Heine den Atlantik mit dem "indischen Meer" verwechselte, ist eine lässliche Sünde. In dem "einsamen Grab" lag Napoleon 19 Jahre lang. 1840 wurde sein Leichnam dann als große politische Geste nach Paris gebracht; seit 1861 schließlich ruht er in dem gar nicht einsamen Sarkophag im Invalidendom. Der Tote von St. Helena ist wie der Arc de Triomphe oder Notre-Dame eines der Symbole Frankreichs geworden.

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