Namensforschung:Im Namen des Trends

Charlotte oder Justin? Der Name eines Menschen verrät viel über sein Alter, seine Bildung und sein Aussehen. Am meisten jedoch über die Eltern, sagt Namensforscher Jürgen Gerhards.

Tanjev Schultz

Jürgen Gerhards ist Professor für Soziologie an der Freien Universität Berlin. Er forscht seit Jahren über Vornamen und was sie über die Gesellschaft aussagen und ist Autor des Buches: "Die Moderne und ihre Vornamen. Eine Einladung in die Kultursoziologie".

Der Vorname als Geschmacksäußerung, Namensforschung

Luca, Lea, Leon - oder lieber ein seltenes Agamemnon? Für den Soziologen Jürgen Gerhards sind Vornamen ein Anzeichen für den gesellschaftlichen Wandel.

(Foto: Foto: Gordon Welters/ddp; Fotomontage: sueddeutsche.de)

sueddeutsche.de: Wenn sich bei Ihnen jemand bewerben würde, der Jürgen heißt - was ginge Ihnen durch den Kopf?

Jürgen Gerhards: Vornamen unterliegen ja Modetrends. Vom Namen würde ich deshalb auf das ungefähre Alter des Bewerbers schließen. Der Name Jürgen war in den fünfziger Jahren beliebt. Wer sich bei einem Professor als wissenschaftlicher Mitarbeiter bewirbt, ist aber normalerweise jünger, ich würde bei Jürgen also stutzig werden.

sueddeutsche.de: Der Vorname gehört zum ersten Eindruck, den man von einem Menschen bekommt.

Gerhards: Man bildet Hypothesen über das Alter, die Intelligenz und die Attraktivität eines Menschen. Da kann man natürlich auch ziemlich danebenliegen. Wenn besagter Jürgen nun doch erst 25 Jahre alt wäre, würde das übrigens mein Interesse an seinen Eltern wecken. Denn sie hätten ihrem Sohn einen Namen gegen den Trend gegeben.

sueddeutsche.de: So bindet der Vorname jeden an die eigenen Eltern - deren Geschmack trägt man mit sich herum.

Gerhards: So ist es. Und bei der Wahl eines Vornamens gibt es unterschiedliche Typen von Eltern, zum Beispiel die Trendsetter, die früher als andere einen Namen entdecken oder wiederentdecken. Beim Namen Jürgen wage ich die Prognose, dass es noch ein bisschen dauert, bis er wieder populär wird. Aber er kommt bestimmt wieder.

sueddeutsche.de: Leiden Sie unter Ihrem Namen?

Gerhards: Nein. Warum?

sueddeutsche.de: Nur so. Es wird ja manchmal unterstellt, Psychologen wollten ihre eigenen seelischen Verletzungen heilen. Und ein Soziologe, der über Vornamen forscht...

Gerhards: Ich interessiere mich für Vornamen, weil sie ein guter Indikator für sozialen Wandel sind. Wenn man die Namensgebung seit Ende des 19. Jahrhunderts bis heute verfolgt, zeigt sich zum Beispiel, dass die Individualisierung zugenommen hat. Das heißt, die Namenswahl wird vielfältiger; es gibt immer mehr Vornamen, weil die Menschen mehr Wert darauf legen, dass ihr Kind nicht den gleichen Namen hat wie andere Kinder.

sueddeutsche.de: Eltern wählen außerdem Namen, die bisher niemand in der Familie hatte.

Gerhards: Genau. Der Begriff Individuum bedeutet "unteilbar". Wenn in einer Schulklasse alle Kinder Jürgen hießen, wären sie als Individuum, dem Namen nach, nicht erkennbar. Wenn alle einen anderen Namen hätten, wäre der höchste Grad an Individualisierung erreicht, weil jedes Kind einen unterschiedlichen Namen hat. Und im Laufe der Jahrzehnte ist die Vielfalt der Namen tatsächlich stark gestiegen.

sueddeutsche.de: Aber wir sind weit davon entfernt, dass jeder einen ganz eigenen Namen hat. Ständig begegnen wir doch auf Spielplätzen Luca, Lea, Leon.

Gerhards: Es gibt natürlich weiterhin einen Rahmen, in dem sich die meisten bewegen. Zwar ist es unangenehm, wenn in der gleichen Schulklasse fünf Kinder Lukas oder Niklas heißen. Aber vor völlig exotischen Namen schrecken Eltern ebenfalls zurück. Wenn ich Agamemnon heiße, bin ich zwar hochgradig individualisiert, laufe aber Gefahr, gehänselt zu werden. Deshalb versuchen Eltern, zwei Prinzipien unter einen Hut zu bringen: einerseits in dem breiten Flussbett der akzeptierten Namen mitzuschwimmen, andererseits nicht in der Mitte des Modestroms zu schwimmen. Sonst ärgern sie sich am Ende vielleicht, weil ihr Sohn genauso heißt wie der Nachbarsjunge.

Auf der nächsten Seite: Katharina kommt aus Zehlendorf, Kevin aus Marzahn - warum es bei der Wahl des Vornamens Milieu-Unterschiede gibt, und warum die Namen Maria und Marie so beliebt sind.

sueddeutsche.de: Die Gefahr besteht doch auch deshalb, weil bestimmte Namen in bestimmten Milieus besonders beliebt sind. Im feinen Berlin-Zehlendorf heißen die Kinder vielleicht Katharina oder Maximilian. In anderen Bezirken grassiert der ,"Kevinismus'". Und wenn ein Kind Kevin heißt, assoziieren viele: Plattenbau, Hartz IV, Kampfhund.

Gerhards: Das mag etwas übertrieben sein. Aber es gibt tatsächlich deutliche Unterschiede, abhängig von der sozialen Schicht. Die Wahl des Vornamens ist heutzutage eine Geschmacksäußerung, und wie in der Mode, der Musik, der Wohnungseinrichtung, gibt es erhebliche Schicht- und Milieu-Unterschiede. Es gibt auf der einen Seite so etwas wie einen vermassten, vulgären Geschmack und auf der anderen Seite den sehr auf soziale Distinktion bedachten Geschmack der oberen Schichten. Das Bedürfnis, sich von unteren Schichten abzugrenzen, ist gerade bei Akademikern ziemlich ausgeprägt.

sueddeutsche.de: Wenn Namen zum Stigma werden: Sollten Sozialpädagogen und Standesbeamte die Kinder vor elterlichen Fehlgriffen schützen?

Gerhards: Dazu sind die rechtlichen Möglichkeiten in Deutschland begrenzt. Anders als zum Beispiel in den USA dürfen die Eltern in Deutschland allerdings Namen auch nicht frei erfinden. In diesem Sinne schützt der Staat durchaus die Kinder. Ich kann mein Kind eben nicht Cola oder Bullshit nennen.

sueddeutsche.de: Was sagen Sie zu diesem Vornamen: Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jakob Philipp Franz Joseph Sylvester?

Gerhards: Ein Traditionsname. Vermutlich aristokratischer Hintergrund.

sueddeutsche.de: Es ist unser Wirtschaftsminister von und zu Guttenberg.

Gerhards: Ach ja. In der Gesellschaft gibt es ansonsten eher einen Trend zu kurzen, einsilbigen Namen. Doch der Adel ist weiterhin recht traditionsbewusst und orientiert sich bei der Wahl von Vornamen an den Vorfahren.

sueddeutsche.de: Da ist, ganz wertfrei gesagt, die Moderne noch nicht so recht angekommen.

Gerhards: Wenn Sie so wollen. Das gilt übrigens auch für die Bauern. Dort, wo familiäre Bande wichtig sind, orientieren sich die Eltern weiterhin an den traditionellen Vornamen der Familie. Insgesamt jedoch sind diese Bindungen im Laufe des 20. Jahrhunderts deutlich zurückgegangen. Kirchliche, biblische Bezüge verlieren ebenfalls an Bedeutung.

sueddeutsche.de: Maria und Marie sind doch wieder sehr populär.

Gerhards: Aber für viele Eltern spielt dabei eher der Klang eine Rolle, die Vornamen verlieren ihre religiösen Konnotationen. Zwar kommen die alten Namen alle wieder, da die Namenswahl Konjunkturzyklen unterliegt. Selbst Otto, Herbert und Herrmann werden wiederkommen, sie haben aber das Gewand ihrer alten Bedeutungen abgelegt.

sueddeutsche.de: Es zeigt sich in der Wiederkehr der deutschen Namen kein neuer Nationalismus oder zumindest ein gewisser Konservatismus? Eine Unverkrampftheit oder Unbedarftheit im Umgang mit der deutschen Geschichte?

Gerhards: Ich habe nicht den Eindruck, dass sie als nationale Namen wiederkehren. Solche Assoziationen sind in den jüngeren Generationen kaum noch da. Heute geht es eher um phonetische Attraktivität.

sueddeutsche.de: Was ein diffuses Kriterium ist. Kein Wunder, dass Eltern oft sehr lange brauchen, um sich für einen Namen zu entscheiden.

Gerhards: Wir haben nicht nur systematisch die Entwicklung der Vornamen seit Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht, sondern auf Wöchnerinnen-Stationen auch Interviews mit Müttern und Vätern geführt. Dabei kam heraus, dass die jungen Eltern in der Tat eher diffuse Antworten geben, wenn man sie fragt, weshalb und wie sie sich für einen Vornamen entschieden haben.

sueddeutsche.de: Was sagen denn die jungen Eltern?

Gerhards: ,"Der Name gefällt mir gut'", ,"es klingt schön'" - das sind die Standardantworten. Weshalb ihnen der Name aber gefällt, können die wenigsten sagen. Es sind Entscheidungen, die wirken, als seien sie aus dem Bauch heraus gefällt worden. Aber ganz so spontan und individuell werden sie eben doch nicht getroffen. Jeder glaubt, er habe eigenständig entschieden, aber es gibt dieses Flussbett des gesellschaftlich Akzeptierten, in dem sich alle bewegen. Die Namenswahl erscheint wie eine private, fast intime Angelegenheit. Sie ist aber doch in hohem Maße sozial strukturiert. Darf ich Sie übrigens fragen, wie Ihre Eltern auf den Namen Tanjev gekommen sind?

sueddeutsche.de: Durch einen russischen Film, behaupten sie. Genau wissen sie es nicht mehr, da ist wohl einiges durcheinander geraten. Es gibt einen russischen Komponisten namens Tanejev, das ist aber ein Nachname. Ostdeutsche sehen mich manchmal scheel an. Slawische Vornamen aus sozialistischen Ländern waren in der DDR nicht besonders beliebt.

Gerhards: Ein interessantes Phänomen. Sowohl in Ost- wie in Westdeutschland orientierten sich nach 1945 die Eltern am westlichen Ausland, französische, anglo-amerikanische und skandinavische Namen haben sich rasch verbreitet. Die DDR-Führung hat diese Öffnung nach Westen bei den Vornamen durchgehen lassen, ohne dass es sofort als illoyales, abweichendes Verhalten gewertet wurde.

Auf der nächsten Seite: Warum deutsche Eltern ihren Kinder nordische Vornamen geben, aber keine türkischen. Und welche Rolle der eigene Namen für die Identität spielt.

sueddeutsche.de: Zur Namensvielfalt tragen in Deutschland auch die Migranten bei. Aber die wenigsten Deutschen kämen auf die Idee, ihrem Kind einen türkischen Namen zu geben. Und die meisten Türken bleiben, wie Sie herausgefunden haben, ebenfalls bei ihren eigenen Namen.

Gerhards: Deutsche nennen ihr Kind zwar Maurice oder Jim oder Natalie oder Björn, aber nicht Hakan oder Ayse.

sueddeutsche.de: Es gibt doch sehr schöne türkische Namen, die klanglich gar nicht so fremd sind und sogar Entsprechungen in westlichen Namen haben: Yasemin oder Melisa zum Beispiel.

Gerhards: Stimmt. Aber es gibt offenbar eine Rangfolge der Reputation verschiedener Kulturen. Namen aus dem romanischen, nordischen und angloamerikanischen Kulturkreis werden von deutschen Eltern in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufiger benutzt. Das hat etwas mit der wirtschaftlichen Stärke dieser Länder, aber auch mit wahrgenommener kultureller Ähnlichkeit zu tun. Die Deutschen geben normalerweise keine japanischen Vornamen. Japan ist zwar wirtschaftlich stark, gilt aber als kulturell fern.

sueddeutsche.de: Und türkische Vornamen?

Gerhards: Deutsche Eltern können noch so sehr Multikulti-orientiert sein: Türkische Vornamen erscheinen ihnen offenbar zu riskant. Bei Migranten gibt es hingegen durchaus Annäherungen: Einige türkische Eltern wählen bewusst Namen, die auch für Deutsche leicht auszusprechen sind oder die Äquivalente im Deutschen haben. Wie wir in unserer Studie herausgefunden haben, sind das typischerweise Migranten, die gut in die deutsche Gesellschaft integriert sind, die also einen hohen Bildungsstand erreicht haben, deutsche Freunde und häufig auch einen deutschen Pass haben.

sueddeutsche.de: Die nennen ihr Kind doch nicht Karl oder Jürgen?!

Gerhards: Nein, aber hier greift etwas, das wir ,"dosierte Diskrepanz'" nennen. Migranten wählen häufig Namen, die nur etwas von den in Deutschland üblichen Namen abweichen. Sie haben ja schon Namen wie Yasemin erwähnt, Türken könnten ihr Kind zum Beispiel Deniz nennen, das ist ein etablierter türkischer Name, wobei das z wie ein s gesprochen wird. Das ist dann so ähnlich wie Dennis oder Denise und klingt auch für Deutsche vertraut.

sueddeutsche.de: Man kann anhand der Vornamen Integrationserfolge und Abschottungstendenzen beobachten?

Gerhards: Ja, ich denke, dass sie ein ganz guter Indikator sind. Zum Beispiel haben sich Ende des 19. Jahrhunderts viele Juden in Deutschland assimiliert und dabei auch ihre Namen geändert. Die Nationalsozialisten haben dann später Vornamen bewusst zur Stigmatisierung und Verfolgung missbraucht. Mehr oder weniger bewusste Diskriminierung aufgrund eines Vornamens gibt es leider auch in Demokratien: In den USA haben Experimente gezeigt, dass es Job-Bewerber bei ansonsten exakt gleicher Bewerbungsmappe schwerer haben, zum Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden, wenn sie einen Vornamen haben, der unter Schwarzen üblich ist. Fotos werden in den USA bei Bewerbungen nicht beigelegt, aber der Name verrät häufig die ethnische Zugehörigkeit.

sueddeutsche.de: Und in Deutschland?

Gerhards: Für Berlin gibt es eine ähnliche Studie mit Bewerbungen für Mietwohnungen: Da erwies sich ein türkischer Name als Nachteil.

sueddeutsche.de: Für Migranten wäre es demnach rational, ihrem Kind einen angepassten deutschen Namen zu geben. Aber wäre das nicht eine anbiedernde Unterwerfungsgeste?

Gerhards: Es ist eine Abwägung zwischen dem Bewahren kultureller Identität und einem erfolgreichen Eingliedern in die Gesellschaft - ein Zielkonflikt. Eine Lösung könnte, wie gesagt, darin liegen, Vornamen zu wählen, die in beiden Gruppen akzeptiert sind.

sueddeutsche.de: Sie bezeichnen den Vornamen auch als ,"Identitätsmarker'". Inwieweit prägt ein Vorname den Charakter?

Gerhards: Gute Frage. Das ist schwer zu sagen, der eigene Name ist sicherlich wichtig, aber ich würde ihm auch nicht zu viel Wert beimessen. Es hängt außerdem vom konkreten Namen ab, manche werden ja immer wieder auf ihren Namen angesprochen: Der ist aber schön! Oder: Wo kommt dieser Name denn her? Sie zum Beispiel werden wahrscheinlich oft auf Ihren Vornamen angesprochen, weil er selten ist.

sueddeutsche.de: Wenn man mit Nachnamen Schultz heißt, ist das gar nicht so unangenehm.

Gerhards: Sehen Sie. Aber man muss sagen, dass ein Name am Ende doch nur ein Name ist. Dafür, wie ein Leben verläuft, spielen harte Faktoren eine größere Rolle: Welche Erziehung erhält ein Kind, welchen Bildungsweg schlägt es ein, welche Berufe haben die Eltern.

sueddeutsche.de: Sie haben zwei Kinder im Teenager-Alter. Darf ich fragen, wie sie heißen?

Gerhards: Niklas und Hannah.

sueddeutsche.de: Schön, aber auch nicht ganz überraschend für die Kinder eines Professors.

Gerhards: Mag sein. Bisher haben sich meine Kinder nicht beschwert, aber wenn ich heute einen Vornamen auswählen müsste, würde ich mich vielleicht anders entscheiden.

sueddeutsche.de: Für etwas Exotisches? Würden sie ihr Kind etwa Brooklyn nennen? Oder Paris?

Gerhards: Nein, bloß nicht. Es gibt aber ein paar Namen, die weniger stark Modezyklen unterliegen, die also überzeitlich sind. Christian zum Beispiel. Vielleicht würde ich eher so einen Namen aussuchen. Etwas, was nicht trendy ist, aber auch nicht altmodisch.

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