Nahostkonflikt:"Ich will meine Meinung sagen"

Julie ist zwölf Jahre alt und lebt in einer Stadt in Israel, um die Juden und Muslime seit Jahrzehnten erbittert streiten: Jerusalem. Hier erzählt sie von ihrem Alltag.

Protokoll: Anna Reimann

"Manchmal nervt mich, dass es hier immer nur um Politik geht. Wenn wir zum Beispiel zu Hause Gäste haben, sprechen alle über den Konflikt. Das ist anstrengend. In der Schule ist das anders. Dort lernen israelische und palästinensische Kinder gemeinsam. In meiner Klasse gibt es also Juden, Muslime und Christen. Das ist hier in Jerusalem etwas sehr Außergewöhnliches, weil es zwischen den Religionen oft Streit gibt. Aber nicht im Klassenzimmer: Da kann ich meine Meinung sagen, ohne dass ich fürchten muss, dass jemand mich dafür verurteilt. Und ich kann die Gedanken der anderen kennenlernen und über sie nachdenken.

Meinen Eltern war es wichtig, dass ich auf diese spezielle Schule gehe. Sie wollten nicht, dass ich jüdische Israelis als Feinde sehe. Das hat geklappt: Ich habe jüdische und muslimische Freundinnen, mit denen ich spielen kann und die bei mir übernachten dürfen.

In der Schule sprechen wir über alle Themen. Auch darüber, wie vor 70 Jahren viele Palästinenser ihre Heimat verloren haben. Zum Beispiel die Großeltern und Eltern meiner Mama. Sie mussten fliehen und haben sich ein neues Leben in der Stadt Nazareth aufgebaut.

Nahostkonflikt: Sieht aus wie eine komische Gitarre, ist aber eine Oud: Julie beim Üben auf dem alten arabischen Instrument.

Sieht aus wie eine komische Gitarre, ist aber eine Oud: Julie beim Üben auf dem alten arabischen Instrument.

(Foto: privat)

An meiner Schule wird Hebräisch und Arabisch gesprochen. Meistens reden wir Kinder untereinander Hebräisch, das ist die Sprache der jüdischen Israelis. Mir hilft es sehr, dass ich gut Hebräisch kann. Ich gehe zum Beispiel einmal in der Woche an der Universität zu einem Mathekurs für Kinder. Die Aufnahmeprüfungen waren auf Hebräisch. Ich hätte sie nie geschafft, wenn ich auf eine Schule mit palästinensischem Lehrplan gegangen wäre.

Einmal ist in meiner Schule etwas Schlimmes passiert: Zwei Männer haben Feuer gelegt, weil sie nicht wollten, dass jüdische und arabische Kinder sich gut verstehen. Zum Glück war das nachts und niemandem ist etwas passiert. Aber der Klassenraum meiner kleinen Schwester wurde zerstört. Wie kann jemand Kinder nur so sehr hassen?

Wenn ich um halb vier von der Schule nach Hause komme, bin ich oft ziemlich erschöpft. Ich spiele dann Videospiele oder lese. Alle zwei Wochen gehe ich noch zu einem Programm, das 'Peace for kids' heißt. Da unternehmen Kinder aus allen Gruppen gemeinsam etwas. Manchmal unterhalten wir uns aber auch einfach. Außerdem spiele ich noch Oud, ein arabisches Saiteninstrument, und verbessere mein Englisch in einem Jugendklub.

"Im Einkaufszentrum spreche ich nur Hebräisch."

Im Alltag bewege ich mich in unterschiedlichen Gegenden. Aber nie kann ich einfach nur ich selbst sein. Ich liebe es zum Beispiel, shoppen zu gehen. Aber die großen Einkaufszentren sind in Westjerusalem, also im jüdisch-israelischen Teil der Stadt. Wenn ich dort bin, spreche ich mit meiner Mutter und meinen Schwestern Hebräisch. Dann fühle ich mich nicht so misstrauisch beobachtet. Andersherum mache ich es genauso: Wenn ich in palästinensischen Gebieten unterwegs bin, etwa in Bethlehem, spreche ich Arabisch und nicht Hebräisch. Auch da hätten die Leute Vorurteile. Die Gesellschaft dort ist ziemlich islamisch geprägt. Wenn ich da kurze Hosen und T-Shirts anziehe, dann gucken die Leute und machen blöde Sprüche.

Ich fühle mich nicht als Israelin und manchmal auch nicht richtig als Palästinenserin. Denn anders als die allermeisten Palästinenser bin ich Christin und habe einen israelischen Pass. Dadurch habe ich einige Vorteile. Wir können zum Beispiel reisen, wohin wir wollen. Ich war schon in der Türkei und in Griechenland. Im Ausland fühle ich mich ganz normal und denke nicht mehr, ich müsste mich so oder so verhalten, um akzeptiert zu werden. Das tut richtig gut."

Hintergrund

Der Nahostkonflikt dauert schon mehr als 70 Jahre, und noch immer ist kein Frieden in Sicht. Bei dem Streit geht es vor allem darum, wer wo wohnen darf. 1948 wurde der Staat Israel gegründet - auf einem Gebiet, auf dem damals bereits Palästinenser und Juden gelebt haben. Die meisten Länder auf der Welt haben das unterstützt. Nach der Verfolgung der Juden durch die Nazis im Zweiten Weltkrieg wollten sie eine sichere Heimat für Jüdinnen und Juden schaffen. Trotzdem kam es bei der Gründung des Staates Israel sofort zum Krieg. Arabische Länder waren nicht einverstanden mit dem neuen Staat und auch viele Palästinenser fanden, dass ihnen damit ein Stück Heimat gestohlen wurde. Bis heute kommt es immer wieder zu Krieg und Gewalt. Palästinenser schießen zum Beispiel Raketen auf Israel oder verüben Attentate. Israel kontrolliert große Teile der palästinensischen Gebiete, die man Westjordanland und Gazastreifen nennt, fliegt Luftangriffe und geht mit Soldaten gegen Proteste vor. Wer heute als junger Erwachsener dort lebt - egal ob er oder sie in Israel oder den palästinensischen Gebieten aufgewachsen ist - hat kaum erlebt, dass die Menschen dort noch wirklich an eine friedliche Zukunft glauben. Natürlich wünschen sich viele auf beiden Seiten Frieden, aber die Unversöhnlichen sind lauter und einflussreicher. Die Situation ist auch deshalb sehr kompliziert, weil viele jüdische Israelis auf palästinensischem Gebiet leben und viele Palästinenser in Israel. In Jerusalem, auch "heilige Stadt" genannt, ist es noch komplizierter: Hier stehen Felsendom, Klagemauer und Grabeskirche auf engem Raum nebeneinander. Das sind die wichtigsten religiösen Bauwerke für Muslime, Juden und Christen. Julie lebt in Jerusalem. Sie ist Palästinenserin, Christin und hat einen israelischen Pass. Damit gehört sie überall ein bisschen dazu und nirgends so richtig. In dem Text links erzählt sie von ihrem Alltag in dieser sehr besonderen Stadt. Nina Himmer

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