Süddeutsche Zeitung

Nach der Bluttat von Orlando:Homosexuelle verdienen mehr als Toleranz

Selbst im liberalen Westen wird die LGBT-Gemeinde von vielen nur toleriert, dabei sind wir ihr alle zum Dank verpflichtet - und zum Beistand gegen Repressalien in anderen Teilen der Welt.

Von Gustav Seibt

Ein freimütiges Gespräch, das Wolfgang Schäuble vor zehn Tagen mit der Zeit führte, brachte den als wertkonservativ bekannten Finanzminister auch auf die Schwulen. Allerdings nannte er sie nicht so. "Von den ,Gleichgeschlechtlichen'", hieß es da, "habe das Land Toleranz gegenüber Minderheiten gelernt, eine Eigenschaft, die sich nun beim Zusammenleben mit den Muslimen bewähre."

An diesen Worten sind zwei Dinge bemerkenswert. Zunächst, dass sie vor dem Massaker von Orlando gesagt und publiziert wurden, also ohne pflichtschuldigen Anlass. Und dann, dass sie den Blick nicht allein auf die einzelne Minderheit richteten, sondern auf die Gesellschaft insgesamt. Sie wird durch Toleranz ein besserer Ort für alle.

Man kann nun über Toleranz und Anerkennung weiterstreiten, denn Toleranz genügt auf Dauer nicht, gerade wenn man Minderheiten integrieren will - dulden heißt beleidigen, wie Goethe sagt. Soeben hat eine neue Studie zu den Türken in Deutschland gezeigt, dass ihr wirtschaftlicher Erfolg und ihre subjektive Zufriedenheit sie der Mehrheitsgesellschaft immer näher bringt - allein, es fehlt am Gefühl, anerkannt zu werden, und diese Wahrnehmung ist ein starkes Motiv zu einer neuen Hinwendung zum Islam.

So geht konservativ

Trotzdem ist unmissverständlich, was Schäuble meinte. Er widersprach einem neu-rechten Diskurs, der gegen ein angeblich von den Achtundsechzigern "versifftes" Deutschland mit seinen Türken, Schwulen und Feministinnen wütet, in dem Konservative "heimatlos" geworden seien. Der wahre Konservativismus, das ließ Schäuble einmal mehr wissen, besteht im Geltenlassen einer seit über fünfzig Jahren gewachsenen Wirklichkeit; zu ihm gehört also auch diese tolerante Unbefangenheit.

Jetzt, nach Orlando, werden überall in den westlichen Demokratien Regenbogenfahnen aufgezogen, selbst Donald Trump verstolpert sich beflissen mit der Buchstabenfolge "LGBT" (der Abkürzung für "Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender"). Der Blick auf die verkorkste Psyche des Attentäters setzt die westliche Liberalität samt aufgeweichten Geschlechterrollen in ein günstiges Licht. Sie mag zwar oft anstrengend sein, hat aber den Vorteil, solche Wut- und Selbsthasskatastrophen unwahrscheinlicher zu machen.

Und als Stätte dieser Freiheit wird nun auch bewegt der soziale Ort Schwulenclub besungen, der Ort, an dem gleichgeschlechtlich Fühlende sich nicht verstellen müssen, sondern unbefangen sie selbst sein können. Das Pulse dürfte der erste Schwulenclub sein, der es in die Rede eines amerikanischen Präsidenten geschafft hat.

Orlando zeigt zudem, dass diese Orte sich längst geöffnet haben: Unter den Opfern ist die Mutter eines Schwulen, die mit ihrem Sohn zusammen feierte, sind heterosexuelle Ehemänner und viele Nachbarn. Sogleich meldeten sich Verwandte, Freunde, Arbeitskollegen der Ermordeten und zeigten damit, wie wenig diese noch Außenseiter waren. Die Rituale der Trauer ähneln denen nach den Anschlägen von Paris und Brüssel.

Der Schwulenclub, Symbol einer Befreiungsgeschichte

Die Kulturgeschichte des Homosexuellenlokals - bisher nur in stadthistorischen Ausschnitten aufgearbeitet, vor allem am Beispiel Berlins - ist tatsächlich ein guter Leitfaden für eine mühsame Befreiungsgeschichte, die von der Illegalität bis zum Mainstream-Chic reicht, in Berlin von kaiserzeitlichen Plüschgewittern über das Zwanzigerjahre-Cabaret bis zum Berghain.

Der letzte Film der DDR, Heiner Carows "Coming out", der seine Premiere am Abend des 9. November 1989 feierte, hat eine der längst verschwundenen historischen Stätten, den "Burgfrieden" in Prenzlauer Berg, für die Nachwelt aufbewahrt. Mit dem Berghain als der letzten Stufe hat die libertäre schwule Feierfreude die liberale Gesellschaft insgesamt angesteckt.

Auch die Landeier wurden erlöst

In der Provinz sah das freilich noch bis zur Jahrtausendwende deutlich trostloser aus, bevor Internetportale und Datingapps auch die Landeier von Lokalen mit Namen wie "Why not" oder "Muttis Bierstube" erlösten. München camouflierte sich auch auf diesem Gebiet als Weltstadt mit Herz: Die "Deutsche Eiche" signalisierte ihre Liberalitas Bavarica mit König-Ludwig-Accessoires. Das war einst bestimmt nicht provinzieller als manche echte Großstadt, wie zum Beispiel Rom, wo die Locations ihre Bemühtheit mit Namen wie "Alibi" oder "Angelo Azzurro" ("Blauer Engel") verrieten.

Toleranz im engherzigen Sinn

Trotzdem konnte es das nie gewesen sein. Die früher so genannte "schwule Subkultur" war immer nur ein Raum der Duldung, also der Toleranz im engherzigen Sinn, nicht aber der Anerkennung. Zudem war sie auch ein Raum der Segregation, zu dem jeder, der den Schwulen Böses wollte, nur hinzugehen zu brauchte, um die Opfer seines Hasses zu treffen. Das klassische anti-schwule Hassverbrechen findet bis heute, beispielsweise in Russland, vor der Tür des Nachtclubs statt. Und an diesem Ort hat der Attentäter von Orlando sein Massaker ja auch ins Werk gesetzt.

Es war immer klar, dass der nächste Schritt die Anerkennung sein musste, also die rechtliche Gleichstellung vor allem der gleichgeschlechtlichen Partnerschaften. Und auch das ist vielfach schon gelungen, gerade in Amerika mit aufsehenerregenden Urteilen des Supreme Court. Unter den Opfern von Orlando sind mehrere Paare, die nun auch gemeinsam bestattet werden.

Die rechtliche Gleichstellung aber konnte nicht nur eine Sache der Minderheit sein, sie musste von der Mehrheit beraten und beschlossen werden. Ein katholisches Land wie Irland hat sie sogar mit einer Volksabstimmung bekräftigt. Daher hat sie, wo sie gelang, die Gesellschaft insgesamt verändert. Sie hat - ein wenig - den Begriff der Ehe verschoben (was ihre Gegner immer noch am meisten verstört), aber vor allem hat sie den Modus der Sichtbarkeit von Schwulen und Lesben in der Gesellschaft verändert.

Denn das logische Ziel der rechtlichen Anerkennung von Homosexualität, über die bloße Entkriminalisierung hinaus, ist die Ankunft im Alltag der Mehrheitsgesellschaft, auch jenseits der tolerierten Freiräume. Erst mit der vollen Anerkennung in allen Alltagsbezügen können Schwule das werden, was jeder andere Mensch auch ist: sichtbar und unauffällig zugleich.

Kampf um Sichtbarkeit - und Unauffälligkeit

Die Sichtbarkeit von Homosexuellen ist derzeit ein merkwürdiger politischer Kampfplatz. Innerhalb der westlichen Gesellschaften bewahrt sie viel von der überkommenen kämpferischen Demonstrativität, die nötig war, um den jetzt erreichten Rechtszustand durchzusetzen. Je umfassender und befestigter dieser wird, umso mehr werden freilich all die Regenbogenfahnen und Christopher-Street-Days folkloristisch. Und irgendwann könnten sie ihren Dienst getan haben.

Anders sieht es nach außen aus. Gegen den konservativen Islam und gegen repressive Regime wie das in Russland werden die Freiheitszeichen der Schwulen als moralische Forderung in eine internationale Arena getragen. Dass die Terrororganisation des IS Hassverbrechen gegen Homosexuelle zu einem Kerngeschäft macht, fordert den Westen an einem empfindlichen Punkt heraus. In Israel sprechen Teile der Community allerdings auch kritisch von "Pink-Washing", von einer bunten Schminke, die mit Schwulenparaden in Tel Aviv vom wachsenden Einfluss der Orthodoxen und der Benachteiligung der Palästinenser ablenken solle.

Entscheidung zwischen Militär- und Schwulenparaden?

Ein umgekehrter moralischer Vorwurf erreicht den Westen aus den konservativen Ländern Osteuropas. Kürzlich ließ die FAZ zwei Osteuropa-Experten zu Wort kommen, die eine kulturelle Zwangslage von Ländern wie Polen und Ungarn zwischen Putins Drohungen und den kulturellen Setzungen des Westens konstatierten: "Die Osteuropäer haben den Eindruck, sie müssten sich zwischen Militärparaden und Schwulenparaden entscheiden, dabei wollen sie beides nicht."

In Russland öffentliche Trauer nach Orlando verboten

Nun ist die hier behauptete Symmetrie nur verbal, kein Realpolitiker könnte eine Alternative im Ernst so formulieren. Und "Schwulenparaden" als solche sind auch keine explizite Forderung des Westens, sondern werden möglich, wenn Homosexualität nicht mehr strafbar ist und das Grundrecht der Versammlungsfreiheit auch für Schwule und Lesben gilt.

Die, die sich da versammeln, sind Bürger der angeblich konservativen Nationen. In Russland durfte jetzt nicht einmal öffentlich um die Opfer von Orlando getrauert werden. Wenn das die Bedingung konservativer Heimatgefühle ist, dann ist der Westen wirklich mit guten Gründen nicht mehr konservativ.

Auch im Westen "ekeln" sich viele

Allerdings haben auch die liberalen Gesellschaften des Westens nach wie vor Probleme mit der Sichtbarkeit von Homosexualität. Ob man sein Privatleben denn öffentlich machen müsse, dieser Einwand bleibt populär auch bei Mitbürgern, die ihre Ehefrauen nicht unter einem Schleier verstecken. Angeblich findet ein hoher Prozentsatz des Gesellschaft in Deutschland küssende Männer immer noch "ekelhaft", auch wenn solche Umfragen methodisch fragwürdig sind. Muss es so schrill sein?

Die allermeisten Schwulen und Lesben suchen ihr Glück aber gar nicht im Demonstrativen. Sie wollen nur sichtbar und unauffällig zugleich sein dürfen, so wie jeder andere in einer Gesellschaft von Verschiedenen. Wer die Gesichter der Opfer von Orlando betrachtet und ihre kurzen Biografien liest, erkennt solche ganz individuellen, zugleich unauffälligen Menschen. Es ist ein Querschnitt durch die amerikanische Mittelklasse, in diesem Fall migrantisch geprägt.

Wie der Normalfall aussehen könnte

Wie sieht der Normalfall von Toleranz und Anerkennung aus, den es hierzulande durchaus schon gibt? Vielleicht so: Zu einer traditionellen heterosexuellen Hochzeit kommt auch der schwule Freund und trägt seinen Ehering. "Ach, Sie sind schon verheiratet?", fragt die unbekannte Tischnachbarin. "Ja, mein Mann sitzt da drüben."

Und wem das zu spießig ist, der hat ja auch immer noch den Nachtclub um die Ecke.

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SZ vom 18.06.2016/kat
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