Süddeutsche Zeitung

Dem Geheimnis auf der Spur:Der Koloss von Dhammazedi

Sie wog angeblich 300 Tonnen und war die größte Glocke, die es je gegeben hat. Bis heute wird in Myanmar nach der legendären Tempelglocke gesucht.

Von Florian Welle

Das Dorf Mingun in Myanmar, ehemals Birma, beherbergt die zweitgrößte funktionstüchtige Glocke der Welt. Nur übertroffen von der erst im Jahr 2000 angefertigten Glocke des Glücks in der chinesischen Stadt Pingdingshan. Die zu Beginn des 19. Jahrhunderts gegossene Mingun-Glocke ist über 3,70 Meter hoch, hat einen Durchmesser von fünf Meter und wiegt stolze 90 Tonnen.

Ihre Maße sind jedoch nichts im Vergleich zu einer anderen, wesentlich älteren Glocke Myanmars. Die Rede ist von der Großen Glocke von Dhammazedi. Sie soll angeblich an die 300 Tonnen gewogen haben! Zum Vergleich: Emmanuel, die größte Glocke im zehnstimmigen Geläut der Kathedrale Notre-Dame, wiegt 13 Tonnen und damit beinahe genauso viel wie der Londoner Big Ben. Das Problem mit dem Koloss von Dhammazedi ist nur, dass er seit über 400 Jahren verschollen ist.

Von Anfang an rankten sich Mythen und Legenden um die Riesenglocke. Der Überlieferung nach gab sie König Dhammazedi, Oberhaupt des Volkes der Mon, im Jahre 1484 in Auftrag, um sie der prächtigen buddhistischen Shwedagon-Pagode von Dagon, dem heutigen Yangon, zum Geschenk zu machen. Dhammazedi war früher Mönch, sein Reich eine Hochburg des Theravada-Buddhismus und die goldglänzende Pagode das bedeutendste Heiligtum des Landes.

Die Anfertigung der Glocke soll unter keinem guten Stern gestanden haben. Der Hofastrologe machte sich Sorgen, weil ihr Guss im Zeichen des Krokodils stattfand, und man befürchten musste, dass sie keinen Ton von sich geben würde. Eine Annahme, der man noch heute im Land begegnet. So zitiert die thailändische Zeitung The Nation in dem Artikel "The hunt for missing magical bell" vom August 2014 einen Einheimischen mit den Worten: "Im Gegensatz zu anderen ist diese Glocke stumm, da das Krokodil keinen Ton von sich gibt." Anderen Aussagen zufolge soll die Glocke nach ihrer Fertigung zwar nicht ganz stumm, aber ihr Ton alles andere als wohlklingend gewesen sein.

Ein portugiesischer Söldner ließ sie mit Elefanten abtransportieren

Die Glocke bestand aus Bronze, Kupfer und Zinn, aber auch Silber und Gold waren wohl beigemischt. Mitunter ist auch zu lesen, dass Edelsteine zur Verzierung verwendet wurden. Wir wissen so wenig über die gewaltige Glocke, weil es nur ein einziges schriftliches Zeugnis gibt, in dem sie erwähnt wird. Von Aleppo kommend erreichte 1583 der venezianische Juwelier Gasparo Balbi nach mehrjähriger Reise das Mon-Reich Pegu. Seine Begegnung mit der Dhammazedi-Glocke beschreibt er in seinem Bericht "Reise nach Pegu und Beobachtungen dort" mit den Worten: "und fand ... in einer schönen Halle eine sehr große Glocke, die wir vermaßen und fanden, dass sie sieben Schritte und drei Handbreiten groß war, und sie ist von oben bis unten voll von Buchstaben, und so dicht beieinander, dass einer den anderen berührt, sie sind sehr gut und ordentlich gemacht: Aber es gab keine Nation, die sie verstehen konnte, auch nicht die Männer von Pegu ..."

Folgt man der Geschichte weiter, kam es 25 Jahre später zu jenem Ereignis, in dessen Verlauf die Glocke auf Nimmerwiedersehen verschwand. Demnach beschlagnahmte sie im Jahr 1608 der portugiesische Warlord Filipe de Brito e Nicote, um daraus Kanonen gießen zu lassen. De Brito ließ sie aus der Shwedagon-Pagode abtransportieren und verfrachtete sie mit Hilfe von Elefanten auf ein Floß oder ein Schiff, das am Zusammenlauf der Flüsse Yangon und Bago auseinanderbrach und samt seiner Ladung versank.

Früher strukturierten Glocken ganz selbstverständlich unseren Tagesablauf. Sie läuteten zum Gebet, warnten vor Feuer, kündigten Feste an. In Kriegszeiten wurden Kanonen aus ihnen gemacht. Auch wenn der große Historiker Alain Corbin in seiner Studie "Die Sprache der Glocken" das ländliche Frankreich des 19. Jahrhunderts im Blick hatte, so lassen sich doch einige Feststellungen verallgemeinern und auf andere Zeiten und Orte übertragen. Für ihn sind Glocken Symbole kollektiver Identität und zeugen als solche "von einer anderen Beziehung zur Welt und zum Heiligen".

Angeblich wird die Glocke von den schlangenähnlichen Naga-Geistern bewacht

Möglicherweise kann man vor diesem Hintergrund besser verstehen, warum die Bewohner Myanmars im Sommer 2014 die vielleicht kurioseste Suchaktion nach ihrer Tempelglocke unternahmen. Schon in den Jahrzehnten zuvor hatten viele vorwiegend ausländische Teams um Unterwasserarchäologen wie Mike Hatcher ihr Glück versucht. Mit modernster Technik wollten sie die Glocke aufspüren. Vergebens. Das Flussbett ist voll von Schlamm, etliche Schiffswracks versperren zusätzlich die Sicht, und die Strömung ist so stark, dass eigentlich gar nicht klar ist, wo genau man suchen soll.

Ganz anders ging das einheimische Bergungsteam um seinen Leiter San Lin vor. Für sie war klar, dass die Glocke von den schlangenähnlichen Naga-Geistern bewacht wird, weshalb man zunächst Essensopfer darbrachte und Gebete sprach, um diese zu besänftigen. Erst dann tauchten sie, nur mit einfachen Luftrohren für die Sauerstoffzufuhr ausgestattet, nach der Glocke. Am 26. August 2014 dann die vermeintliche Sensation: die Glocke, gefunden!

Kurze Zeit später stellte sich das jedoch als Falschmeldung heraus. Betrugsvorwürfe machten die Runde, juristische Schritte wurden eingefordert. So hütet die Dhammazedi-Glocke bis auf Weiteres ihr Geheimnis. Der Historiker Chit San Win gab im Zuge der vorerst letzten großen Suchaktion zu bedenken, dass König Dhammazedi seine Schenkungen stets sorgfältig dokumentierte. Doch ausgerechnet von der gigantischen Glocke lässt sich bei ihm keinerlei Aufzeichnung finden. Was die ketzerische Frage nahelegt, ob die Glocke überhaupt je existiert hat.

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