Kolumne: Vor Gericht:Im Mutter-Kind-Knast

Lesezeit: 2 Min.

(Foto: Doreen Fiedler/picture alliance/dpa)

Patrizia plagen Zweifel: Hätte sie ihre zweijährige Tochter lieber draußen bei Oma lassen sollen oder bei einer Pflegefamilie, statt sie mit ins Gefängnis zu nehmen?

Von Ronen Steinke

Patrizia kam mit 18 Jahren zum ersten Mal ins Gefängnis. Ihre Tochter war damals zwei Jahre alt, der Vater des Kindes schon längst wieder aus ihrem Leben verschwunden. Patrizia hatte in Hannover eine Reihe von Diebstählen begangen, Leute verprügelt und einen Richter belogen. Und so saß sie nun da – mit dem Kind auf dem Schoß. Gemeinsam hinter Gittern. Als die Oma des Kindes zu Besuch kam, blieben sie anfangs durch eine dicke Glasscheibe getrennt. Das Kind fand das seltsam. Patrizia versuchte, es dem Kind zu erklären: „Mama war böse.“ Das Kind war verwirrt.

Im Frauengefängnis im niedersächsischen Vechta sind Mütter mit ihren kleinen Kindern inhaftiert, in Zellen mit extra Kinderbettchen. Ansonsten sieht es, wenn man hier durchgeht, aber auch nicht lockerer aus als in anderen Teilen der Haftanstalt. Im geschlossenen Mutter-Kind-Trakt gibt es sogar noch mehr Gitter als sonst: Die Treppe am Ende des Ganges ist mit einer Kindersicherung versehen. Patrizia hat, als ich sie im Gefängnis besuchte, zugegeben, dass sie unsicher sei: Ob sie das Kind lieber draußen bei Oma hätte lassen sollen oder bei einer Pflegefamilie? „Man kommt im Gefängnis ja selbst nicht klar, wie soll dann ein kleines Kind klarkommen?“

Schwangere dürfen das Gefängnis für ein paar Tage verlassen – danach müssen sie zurück, ohne Kind

Vielleicht ist das eine Frage, auf die es nie eine richtige Antwort gibt. Auch mehr als zehn Jahre nach diesem Besuch denke ich das noch. Sicher: In der JVA Vechta gibt es ein Spielzimmer, mit Puppenwägen und Bällen. Und es gibt auch Beamtinnen, die sich gut kümmern. Aber es ist ein Leben wie in einem Bunker. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe hat gerade neue Zahlen veröffentlicht: Zwischen 2017 und 2022 wurden schätzungsweise 250 Kinder im Strafvollzug geboren. Aber manche Bundesländer sind bis heute prinzipiell der Meinung, dass eine vorübergehende Trennung von der Mutter das geringere Übel sei. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel dürfen Schwangere zur Geburt das Gefängnis für ein paar Tage verlassen. Danach müssen sie ohne Kind zurückkommen. Wegen des Kindeswohls.

Im niedersächsischen Vechta gibt es eine Gefängnis-Dachterrasse. Dort ist Patrizia manchmal mit ihrer kleinen Tochter an die frische Luft gegangen. Vor allem wenn die mal wieder viel geweint hatte. Zeigt ein Kind hier auf den Stacheldraht und fragt erstmals: „Was ist das?“, dann bleibt es jeder Mutter selbst überlassen, wie viel Wahrheit sie ihrem Kind zumutet. Ein Draht zum Schutz vor Tauben, heißt es dann manchmal. So hat es mir eine Pädagogin erzählt.

Wenn sich solche Fragen häuften, dann sei es aber eigentlich ein Zeichen dafür, dass das Kind schon „zu viel von seiner Umgebung versteht“. Spätestens mit drei Jahren sollten Kinder deshalb den geschlossenen Vollzug verlassen haben, so lautet in Niedersachsen die Regel. Sonst beginnen die Kinder allmählich, die Ohnmacht ihrer eigenen Mutter zu begreifen – und wenden sich nicht selten emotional den Beamtinnen mit den Schlüsseln zu.

An dieser Stelle schreiben Verena Mayer und Ronen Steinke im wöchentlichen Wechsel über ihre Erlebnisse an deutschen Gerichten. (Foto: Bernd Schifferdecker)
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