Erst nach mehreren Untersuchungen war klar, dass es keine Hirnblutung war. Bis heute wissen wir nicht, was Julius' eigentliches Leiden ist und woher seine schweren epileptischen Anfälle kommen. Wir müssen damit leben, dass Julius schwerbehindert bleiben wird. Als mir immer bewusster wurde, dass es keine Chance mehr auf ein "Alles wird gut" gibt, brach eine Welt in mir zusammen. In diesem Moment der Wahrheit wollte ich ihn, so wie er war, nicht haben, .
Ich empfand das Schicksal als eine blutrünstige Zecke, die sich an unserem Leben festgebissen hatte und uns leersaugte. Und ist es nicht so, dass jede Mutter ihr eigenes Baby als das schönste der Welt ansehen muss? Ich bekam Angst, weil sich dieses Empfinden bei mir einfach nicht einstellen wollte. In mir tobten Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Mr. Hyde sagte, "Julius ist eine Enttäuschung!" Dr. Jekyll ermahnte mich: "Ein Kind darf keine Enttäuschung sein! Niemals!" Fragen marterten mich: Warum? Warum ich? Warum wir? Warum mein Baby? In 95 Prozent der Geburten geht alles gut, warum gehöre ich zu diesem lächerlichen Rest?
Flucht und Verdrängung
Ich will nichts beschönigen, so waren meine Gedanken. Eigentlich furchtbar, dass ich meinen Sohn nicht auf Anhieb annehmen und lieben konnte, sondern stattdessen schockiert war. Wenn ich heute darüber nachdenke, erscheint mir das unwirklich, aber so war es nun mal. Ich wollte irgendwann nur noch ausbrechen aus dieser Situation, ganz irrational. Ich setzte mir in den Kopf, dass ein drittes, gesundes Kind mir wieder eine heile Welt verschaffen und alles wieder gut machen sollte.
Doch mein Mann legte ein Veto ein. Plötzlich richtete sich meine Wut, meine Verzweiflung, meine Traurigkeit gegen ihn. Ich dachte an Trennung. Mein Mann aber hatte schon eine schwere Trennung hinter sich und wusste für sich, dass er das nicht noch einmal durchmachen wollte. Trennung kam für ihn nicht in Frage. Erst nach vielen Tränen, und guten, aufmerksamen Gesprächen ließ ich von diesem Gedanken ab. Dass er so standhaft blieb, dafür bin ich ihm heute unendlich dankbar.
Mein Mann hatte seinen Schmerz lange verdrängt, er arbeitete viel und flüchtete sich in den gewohnten Alltag. Zunächst funktionierte das, doch dann merkte ich, wie sehr er mit seiner eigenen Trauerarbeit hinterher hinkte. Ich hatte das Gefühl, für uns alle zu trauern. Erst viel später wurde ihm das bewusst.