"Ich habe mir mein Leben ganz anders vorgestellt. Ich träumte von einer heilen und glücklichen Familie. Als ich mich in meinen Mann verliebte, hatte ich die romantische Überzeugung, aus dieser Liebe müsse etwas Großartiges entstehen: ein Kind. Da mein Mann schon zwei erwachsene Kinder hatte, musste ich Überzeugungsarbeit leisten. Mit 34 wurde ich zum ersten Mal Mutter.
Wir waren eine kleine Familie, ich wünschte mir ein zweites Kind. Vier Jahre später war ich erneut schwanger. Wir waren uns einig, dass ich kein behindertes Kind austragen würde, falls etwas festgestellt werden sollte. Doch wer weiß, ob ich am Ende wirklich abgetrieben hätte, wenn ich von einer Behinderung gewusst hätte? Nun, alle Untersuchungen waren ok und ich habe diesen Gedanken sehr schnell verdrängt. Ich war mir auch irgendwie sicher, dass mich nicht noch ein Schicksalsschlag treffen würde, da ich schon ein Päckchen aufgrund meiner eigenen, nicht immer einfachen Kindheit tragen musste.
Als dann mein zweiter Sohn auf die Welt kam und mir auf die Brust gelegt wurde, war ich der glücklichste Mensch der Welt. In jeder Zelle meines Körpers breitete sich Liebe für ihn aus. Doch als ich Julius genauer betrachtete, sah ich, dass er nicht perfekt war. Er hatte einen riesigen Storchenbiss, eine knallrote Stirn - und ihm fehlte das letzte Glied am rechten Mittelfinger. Es war nur ein kleines Stück, aber für mich war es eine Katastrophe. Bis zu diesem Zeitpunkt kannte ich nur Menschen, an denen alles dran ist.
Die Ärzte wollten mir erklären, dass alles normal sei, dass der Finger im Leib abgeschnürt worden sei und sich das verwachse. Ich konnte das nicht glauben, sondern war mir sicher, dass auch andere Dinge nicht stimmten. Nur eine Ärztin teilte meinen Verdacht, weil Julius so verkrampft war. Sie vermuteten eine Hirnblutung während der Schwangerschaft. Ich entwickelte Schuldgefühle, dachte verzweifelt darüber nach, ob und was ich während der vergangenen neun Monate falsch gemacht haben könnte. Julius wurde mir zu weiteren Untersuchungen wieder weggenommen - und ich fühlte mich zwischen all den glücklichen Müttern plötzlich wie der Schwarze Peter.
Ich konnte Julius nicht annehmen, wie er war
Die erste Zeit mit Julius wurde zur schlimmsten meines Lebens. Ich war davon überzeugt, dass ich einem Leben mit einem behinderten Kind nicht gewachsen sei. Ich dachte, dass andere das besser meistern könnten als ich. Am Anfang hörten mein Mann und ich immer wieder wundersame Geschichten von Läufern, Radfahrern und Basketballspielern, die als Kinder eine Hirnschädigung hatten, und ihren Weg dennoch gegangen sind. Doch auf Julius traf und trifft das nicht zu.
Bereits ein paar Tage nach seiner Geburt musste Julius während einer MRT-Untersuchung des Kopfes künstlich beatmet werden. Nach Beendigung der Narkose konnte er über eine längere Zeit nicht mehr selbständig atmen. Ich dachte damals, wenn das so bleibt, lieber Gott, dann lass ihn lieber sterben. Dann wäre das ein grauenhaftes Ende mit Schrecken, besser aber als ein Schrecken ohne Ende.