Muslimische Söhne:Beschneidung - kleiner Eingriff, große Fragen

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Beschneidungen sind legal, wenn sie unter Vollnarkose vom Arzt vorgenommen werden. (Foto: Bradley Secker/laif)

Vielen deutsch-türkischen Paaren geht es wie Katrin und Mesut. Sie müssen sich entscheiden: Soll unser Sohn beschnitten werden?

Von Ines Lutz

Eine junge Frau und ein junger Mann lieben sich. Katrin* ist christlich getauft, aber nicht religiös. Mesut* ist Muslim und stammt aus einer weltoffenen, türkischen Einwandererfamilie. Beide respektieren die Kultur des anderen. Sie heiraten und beschließen, eine moderne Ehe zu führen. Die Frau bringt einen Sohn zur Welt. Ein europäisches Kind soll er sein, seine Religion darf er sich später selbst aussuchen. Die Mutter spricht mit ihm deutsch, der Vater türkisch. Die Familie feiert Weihnachten, aber auch Ramadan. Das Beste aus beiden Kulturen wollen sie ihrem Sohn mitgeben, doch eine Frage löst fast schon Verzweiflung aus: ob der Junge beschnitten werden soll. Katrin hat Angst davor, für Mesut ist es ein Teil seiner kulturellen Identität. Beide wollen die Sorgen des anderen respektieren, können aber keine Zugeständnisse machen.

Die Geschichte von Katrin und Mesut ist kein Einzelfall, sondern ein Konflikt, der in vielen Familien Debatten auslöst. Eine neue Elterngeneration mit deutsch-türkischen Söhnen muss diese Entscheidung treffen. Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes gibt es in Deutschland knapp 240 000 Ehen zwischen deutschen Frauen und türkischen Männern. Türkische Söhne werden meist zwischen dem sechsten und dem 14. Lebensjahr beschnitten.

Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wurden im Jahr 2015 rund 46 000 Beschneidungen bei Jungen unter 16 Jahren vorgenommen. Das sind die medizinisch notwendigen Fälle, denn nur dann zahlt die Krankenkasse die Operation. Kinderärzte stellen keinen Überweisungsschein für Beschneidungen aus religiösen Gründen aus. Die Kosten tragen die Eltern selbst, circa dreihundert Euro. Den Eingriff während eines Türkeiurlaubs machen zu lassen, ist billiger.

Die Beschneidung ist für alle männlichen Muslime Pflicht - Mohammed ist das Vorbild

Bei Mesut war das auch so, damals. Beschnitten wurde er bei einem Sommerurlaub in Istanbul. Er sagt: "Ich denke, es ist einfacher, wenn man ein Kind ist. Das ist schnell vorbei und man hat nur noch eine vage Erinnerung." Mesut ist es wichtig, dem Sohn neben der Sprache auch die Beschneidung als kulturellen Hintergrund mitzugeben. "Das ist ein Teil von mir selbst. Auch wenn es vielleicht komisch klingt. Ich möchte dafür sorgen, dass er in der türkischen Gesellschaft auch akzeptiert wird. Wenn du einen türkischen Nachnamen hast und mit den Jungs zum Fußballspielen gehst, dann wirst du erst mal als Türke wahrgenommen." Wenn sich in der Dusche aber rausstellt, dass man nicht beschnitten ist, sei das sofort Thema. "Du giltst dann als Nicht-Türke", sagt Mesut. Da kann es dann blöde Sprüche von anderen Jungs geben. Weil man unrein sei und unhygienisch. Mesut geht es nicht um Religion, sondern um kulturelle Identität.

Die Beschneidung, türkisch: sünnet, ist Pflicht für alle männlichen Muslime. Das steht zwar nicht im Koran, ist aber im türkischen Islam ein festes Ritual, fast alle Männer sind dort beschnitten. Muslime sollen der Vorbildfunktion des Propheten Mohammed gerecht werden, der als der vollkommenste Mensch gilt. Der Prophet soll ohne Vorhaut geboren worden sein.

"Auch die Eltern nichtmuslimischer Söhne lassen das machen, damit die Kinder nicht von anderen verspottet werden," sagt Christoph Neumann. Er ist Professor für türkische Studien an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. Die Beschneidung sei auch eine Initiation, ein Zeichen dafür, dass der Junge nun kein Kind mehr ist. In türkischen Familien ist dieser Tag ein großes Fest; viele Gäste kommen, die Söhne werden mit weißen Prinzenkostümen ausstaffiert. Sie werden auf weiße Laken zwischen Plüschtiere gebettet und beschenkt.

Sommerurlaub in Istanbul. Mesut war damals fünf Jahre alt. Zusammen mit seinem Bruder und einigen Verwandten waren sie im Haus der Großmutter. "Da kamen plötzlich zwei Leute, und dann ist das einfach passiert. Es wurde gesagt: 'Jetzt wirst du zum Mann.' Man hat mich zu dritt festhalten müssen," erzählt er heute. Mesut sah eine riesige Spritze und eine Schere, er hatte Angst. "Die ziehen dir den Kopf nach hinten, damit du nicht hingucken musst. Aber du merkst natürlich alles. Wir haben geschrien und geweint", sagt Mesut. Es gab eine lokale Betäubung, aber kein Krankenhaus und keinen Arzt. Die Brüder lagen dann einen Tag gemeinsam im Bett, sie sahen ihr Blut zwischen weißen Laken.

In Deutschland geht das anders zu. Das regelt seit dem Jahr 2012 der Paragraf 1631 d Absatz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches. Beschneidungen sind legal, wenn sie mit Einwilligung der Eltern unter gewissen Regeln erfolgen, also durch einen Arzt unter Vollnarkose des Kindes. Für Beschneidungen von Jungen innerhalb der ersten sechs Lebensmonate macht Absatz 2 des Paragrafen die Ausnahme, dass es kein Arzt sein muss, der den Eingriff vornimmt. Auch eine von einer Religionsgemeinschaft dafür vorgesehene Person mit besonderer Ausbildung soll beschneiden dürfen. Von dieser Regelung sind die jüdischen Gemeinden betroffen, in denen die Söhne kurz nach der Geburt beschnitten werden.

Der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte lehnte das Gesetz damals wie heute ab. Der Widerstand der Ärzte gegen die legale Beschneidung aus religiösen Gründen blieb jedoch erfolglos. Brigitte Dietz, Pressesprecherin des Berufsverbands, sagt: "Ich halte dieses Gesetz für falsch, weil es das Recht des Kindes auf Unversehrtheit massiv beeinträchtigt. Die Religion der Eltern wird über das Kindeswohl gestellt. Es wird in Kauf genommen, dass ein gewisses Risiko besteht." Das sei so bei einer Vollnarkose.

Die Beschneidung ist ein medizinischer Routineeingriff, aber Nebenwirkungen kommen vor: der postoperative Wundschmerz, Blutungen, Schmerzen beim Urinieren und eine lokale Überempfindlichkeit für einige Wochen. Schwere Komplikationen treten selten auf. Bei rituellen Beschneidungen, die nicht medizinisch fachgerecht und unter Vollnarkose durchgeführt werden, ist das anders. Eine aktuelle Studie aus Dänemark kommt zu dem Ergebnis, dass beschnittene Jungen ein fünfzig Prozent höheres Risiko haben, eine Autismus-Spektrumsstörung zu entwickeln, als unbeschnittene. Möglicherweise besteht eine Verbindung zwischen Autismus und einem Trauma durch die Beschneidung.

Dietz sieht die dänische Studie kritisch: "Es gibt eine große Bandbreite an autistischen Störungen. Ich glaube nicht, dass eine fachgerechte Beschneidung ein Trauma hervorruft." Anders beurteilt Dietz ein frühkindliches Schmerztrauma, wie es durch eine rituelle Beschneidung ausgelöst werden könnte - ohne Arzt und Narkose. So eine Erfahrung wirkt nach.

Deutsche Kinderärzte meinen, dass gründliche Körperhygiene den gleichen Schutz bietet

Die Beschneidung männlicher Neugeborener ist aber nicht nur im Zusammenhang mit der Religionszugehörigkeit zu sehen. In den USA ist die große Mehrheit der Männer beschnitten, während die Quote in Europa bei durchschnittlich unter zwanzig Prozent liegt. Der amerikanische pädiatrische Berufsverband erklärt, dass die möglichen gesundheitlichen Vorteile einer Beschneidung die Nachteile dieses Eingriffs überwiegen. Es könne nachgewiesen werden, dass beschnittene Männer ein statistisch niedrigeres Risiko haben, sich mit HIV und anderen Sexualkrankheiten anzustecken. Doch die Beschneidung allein schützt nicht vor der Ansteckung mit Sexualkrankheiten. Deutsche Kinderärzte vertreten die Ansicht, dass eine gründliche Körperhygiene den gleichen Schutz bieten kann.

Katrin will auf keinen Fall, dass ihr Sohn beschnitten wird, sie will ihn nicht unnötig in Gefahr bringen. Außerdem kann sie den Sinn dieses Rituals nicht begreifen. "Früher war eine Beschneidung aus hygienischen Gründen sinnvoll", sagt sie. "Aber wir leben ja nicht mehr in der Wüste. Jeder hat fließendes Wasser und kann sich waschen. Mein Mann will zeigen, dass sein Sohn zu ihm gehört. Aber wenn es ein Mädchen gewesen wäre, würde man auch nicht einfach etwas wegschneiden, ein Ohrläppchen oder so. Sie würde trotzdem hundert Prozent zu ihm gehören."

Auf den Banderolen des Prinzenkostüms der beschnittenen Söhne steht: Mashallah. So Gott will. Es gibt da diesen Widerspruch: Der Islam verbietet, den eigenen Körper zu verändern. Man darf sich nicht tätowieren oder Schönheits-OPs vornehmen lassen. "Weil Gott sich was dabei gedacht hat, wie er den Menschen geschaffen hat. Wir haben nicht das Recht dazu, den Menschen zu verschandeln", erklärt der Vater. "Warum werden die Kinder dann mit Vorhaut geboren?", fragt die Mutter.

Eine heikle Frage also, für beide Seiten. Und irgendwann müssen sich die Eltern entscheiden, ganz oder gar nicht.

(* Namen geändert)

© SZ vom 04.02.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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