Ein Wegesrand in Oberbayern: Gestrüpp, Brennnesseln. Und Brombeeren. Reif, prall, schwarz. Man kann nicht anders, als sie zu pflücken und im Mund zerplatzen zu lassen. Man will die Süße schmecken, bevor man weiter geht, mit blauschwarzen Fingern.
Was genau hat man da jetzt gemacht? Wem gehören diese Brombeeren, und wäre jemals jemand gekommen, sie zu ernten? Oder wären sie einfach reifer und immer reifer geworden, irgendwann verfault und zu Boden gefallen, ein missachtetes, verschwendetes Geschenk der Natur?
Letzteres ist wohl wahrscheinlich an dem Ort, an dem diese Brombeeren wachsen, auf knapp 1000 Metern Meereshöhe und an einer Stelle, an der im Jahr vielleicht zehn Wanderer vorbeikommen. Hier wachsen Brombeeren, ungenutzt.
Doch nur ein paar Kilometer weiter stehen im Supermarkt Beeren im Regal, gesammelt auf anderen Kontinenten und verpackt in Plastik. Irgend etwas passt da nicht. Findet zumindest Kai Gildhorn, einer der Macher einer Internetseite, die in den vergangenen Monaten viel Aufmerksamkeit bekommen hat, positive wie negative. Mundraub.org heißt sie.
Die Idee dahinter: Menschen tragen in einer interaktiven Karte den Fundort von allem ein, was wild wächst und den Eindruck macht, als ob es essbar wäre und von niemandem gepflückt wird. Und andere Menschen können das Obst, das Gemüse, die Kräuter dann ernten. So verkommt einerseits nichts, und andererseits wird weniger Essen gekauft, das zuvor rund um die Welt gekarrt wurde.
Die eifrigsten Obstsammler wohnen in Großstädten
Die Idee dazu hatte der 42-jährige Gildhorn, als er mit Freunden in Sachsen-Anhalt im Paddelboot unterwegs war und am Flussufer Apfelbäume ihre schwer beladenen Äste ins Wasser hängen ließen. Bäume, die offensichtlich niemand aberntete.
"Das fand ich seltsam", sagt Gildhorn. "Da waren wir in der Natur und es gab dort viel zu essen, aber wir hatten unser Essen im Supermarkt gekauft und mitgebracht." Und weil er, wie er von sich sagt, ein grünes Herz hat, erfand der Umweltingenieur die Internetplattform mundraub.org, aus der mittlerweile ein Verein entstanden ist.
Gildhorn und seine Partner gewannen mit ihrer Idee einen Preis des Rates für nachhaltige Entwicklung, der die Bundesregierung berät. Medien wurden aufmerksam, das Portal wurde bekannt. 19 000 registrierte Mitglieder tragen dort mittlerweile Fundorte auf der Karte ein. Jetzt in der Erntezeit ist Hochsaison auf mundraub.org. Täglich wird etwa 5000 Mal auf die Seite zugegriffen; die aktivsten Mitglieder hat der Verein in Großstädten.
Gildhorn geht es dabei um mehr, als an kostenlose Lebensmittel zu kommen. "Wir wollen zum Nachdenken anregen", sagt er, "zum Nachdenken darüber, wie wir mit Ressourcen umgehen. Wenn irgendwo ein ungenutzter Apfelbaum steht, dann hat den irgendjemand mal gepflanzt. Warum erntet jetzt niemand mehr, was hat sich an dieser Stelle oder generell in unserer Gesellschaft verändert?"
Gildhorn möchte dazu anregen, wieder aufmerksamer durch die Natur zu gehen und zu überlegen, was man selbst tun kann, damit das "öffentliche Obst", wie er es nennt, erhalten bleibt - denn nach und nach werden zum Beispiel viele Obstbaumalleen abgeholzt, die es im Osten Deutschlands noch gibt.
In "Erntecamps" wird tonnenweise Obst gepflückt
Um diesen Ansatz zu vertiefen, veranstaltet Mundraub mittlerweile auch Aktionen. Zum Beispiel fahren Kai Gildhorn und sein Partner Konstantin Schroth an jedem Septemberwochenende von Berlin ins Havelland und holen tonnenweise Obst von den Bäumen. Nicht alleine, sondern mit anderen - in sogenannten Erntecamps, die sie über ihr Portal organisieren.
Im April hat Schroth begonnen, im Havelland nach Gemeinden zu suchen, die nichts dagegen haben, wenn "die Berliner zum Ernten einfallen", sagt er. Einfach war das nicht. Die erste Frage an Schroth war meist: Und was haben wir davon? Aber Schroth hat vier Gemeinden gefunden, denen einige Liter Apfelsaft als Gegenleistung ausreichen. Insgesamt knapp 100 Freiwillige werden dort nun an vier Wochenenden die Obstalleen abernten.
Ein Ausgleichshobby für gestresste Großstädter? Nein, sagt Gildhorn leicht genervt. "Ich gehe einfach gern raus in die Natur, steige auf Bäume und ernte."
Am vergangenen Wochenende haben die Mundräuber mit 16 Leuten zehn Tonnen Äpfel eingesammelt. "Wir waren völlig fertig", erzählt er, "und genau das will ich auch: dass die Leute wieder ein Gefühl dafür bekommen, was eigentlich für eine Arbeit in einem Apfel steckt, welche Arbeit Obstbauern und überhaupt Bauern verrichten. Wenn man einen Apfel nicht im Supermarkt kauft, sondern selbst auf den Baum klettert, den Apfel pflückt, mit einer Schubkarre wegfährt - dann schmeißt man so schnell keine Lebensmittel mehr weg. Dann erkennt man auf einmal den Wert der Dinge wieder."
Mundraub hat jedoch nicht nur Freunde. Im Internet findet man Kommentare, in denen die Macher mit Hausbesetzern verglichen oder als Diebe bezeichnet werden, als Menschen, die nur nehmen und nichts geben wollen.
Gildhorn ärgert das. "Ich hab' Schulden gemacht und sehr viel Lebenszeit, immens viel Arbeit und Energie investiert, um diese Plattform zu betreiben", sagt er. "Ich will nichts umsonst. Ich will ja gerade, dass wir etwas zurückgeben und uns mehr mit dem Gebrauch unserer Ressourcen befassen." Und ganz sicher wolle Mundraub nicht zum Diebstahl anstiften. Das stehe auch klar in den Regeln auf der Seite.
Wer einen Obst-Fundort einträgt, muss vorher nachgeprüft haben, wem der Busch oder Baum, an dem die Früchte hängen, eigentlich gehört. Denn tatsächlich gibt es in Deutschland kein "herrenloses Obst". Wenn Bäume nicht in Privatbesitz sind, gehören sie den Kommunen. Immer wieder prüfen die Mundräuber die Angaben nach, versuchen, Privatpersonen und Vertreter von Gemeinden ausfindig zu machen, denen nicht abgeerntete Bäume oder Sträucher gehören.
Dass Mundraub polarisiert, liegt vielleicht auch am Namen, sagt Gildhorn. "Wir hätten die Plattform auch Gemeinschaftsbäume.de nennen können", sagt er. "Aber das hätte doch niemanden interessiert."
Auch im Pomologen-Verein gibt es kritische Stimmen
Man könnte nun meinen, dass eine Initiative wie die der Mundräuber bei Menschen, die sich für den Erhalt von Obstbäumen einsetzen, offene Türen einrennt. Das ist aber nicht so. Im Pomologen-Verein Berlin-Brandenburg, der genau diesen Zweck hat, sitzt einer der Kritiker: Obstbaukundler Hans-Georg Klose. "Diese Mundräuber habe ich schon oft auf den Topf gesetzt", sagt er. "Das Problem ist doch, dass keine Bäume nachgepflanzt werden und niemand die Bäume pflegt."
Die Bäume auf den Brandenburger Obstalleen seien heute im Durchschnitt 80 Jahre alt. "In ein paar Jahren sind die alle tot", sagt er. Allein in Brandenburg, fährt Klose fort, würden jährlich bis zu 9000 öffentliche Obstbäume gefällt. Und die, die nachgepflanzt werden, würden einfach sich selbst überlassen und trügen nach spätestens sieben Jahren keine Früchte mehr. Der Verein Mundraub ist für ihn, das merkt man schnell, ein romantisiertes Landlustprojekt einiger Hippies, mehr nicht.
Die Mundräuber aber meinen es ernst. Nach den Erntecamps gibt es nun auch umfassendere Projekte, bei denen Gemeinden beraten und unterstützt werden. Das größte ist im niedersächsischen Hasetal. Der Zweckverband des dortigen Erholungsgebiets hat entlang des 200 Kilometer langen Radfernwegs "Hase-Ems-Tour" Tausende Obstbäume gepflanzt, die zur freien Verfügung stehen.
Mundraub hat die 16 Gemeinden entlang des Radwegs bei einem Konzept unterstützt, wie die Bäume nachhaltig gepflegt und genutzt werden können - über Baumpatenschaften etwa. Unterstützt wird das Pilotprojekt von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU).
50 Bäume für Berlin - eine Allee auf der Brache
Ein anderes Projekt entsteht gerade auf einer Brache am Berliner Stadtrand. Dort steht Schroth mit gestreiftem Fahrrad und ausgeleiertem Pulli zwischen 50 Obstbäumchen. "Unsere Allee", sagt er. Während er spricht, seilt sich eine kleine Spätsommer-Spinne von seiner Brille ab.
Immerhin 30 Menschen haben sie gefunden, die bereit waren zu versprechen, dass sie nicht nur einen Baum pflanzen, sondern auch lernen wollen, wann man ihn wie beschneiden muss. Schroth selbst, der Landschaftsnutzung und Naturschutz studiert hat, hat gerade noch eine Ausbildung zum Obstgehölzpfleger begonnen.
"Das Ernten ist der einfachste Weg, um Menschen für Obstbäume zu begeistern", sagt er. Und wer erst einmal geködert ist, soll sich im Idealfall nicht nur für Saft- und Marmeladenproduktion interessieren, sondern auch fürs Pflegen der Bäume.
Noch sind die Stämme der Berliner Mundraub-Allee gerade mal armdick und an den Ästen hängen statt Obst nur bunte Zettelchen. "Hier wächst eine Williams-Christ-Birne", informiert ein Baumpate auf ein paar laminierten Zeilen. Die Williams-Christ-Birne selber sieht allerdings so aus, als bräuchte sie noch einiges an Unterstützung, bis sie wirklich wachsen könnte. "Es sind halt immer ein paar Krüppel dabei", sagt Schroth und zupft ein welkes Blatt aus dem traurig aussehenden Birnbaum. Er ist dennoch zufrieden mit seiner Obstallee.
"Ein Projekt mit bundesweiter Strahlkraft"
Für die Erntecamps hat das Modell der baumliebenden Städter immerhin schon funktioniert: Die Bundesgartenschau hat den Mundräubern zugesagt, ihnen 20 000 Liter Saft abzunehmen. 2015 findet die Garten-Großveranstaltung im Havelland statt. Wer sie besucht, wird in den Läden Saft aus den Mundraub-Erntecamps finden. Alles aus Obst, das ohne Idealisten wie diese früher einfach am Boden verfault wäre. Ein "Projekt mit bundesweiter Strahlkraft" sagt Schroth. Dass die Mundräuber gar keine Räuber sein wollen, wird damit vielleicht etwas deutlicher.