Der irre Trend:Völlerei gegen die Einsamkeit

Mukbang

100 Toastbrotscheiben essen - für diese Frau kein Problem.

(Foto: Screenshot Youtube)

In Südkorea stopfen sich YouTuber mit Essen voll - und werden manchmal sogar reich damit.

Von Julia Hägele

Vorhang auf: Südkorea, Seoul, Single-Wohnung. Dort sitzt eine junge Frau, sie lächelt in die Kamera und wirkt glücklich. Vor ihr auf dem Tisch liegen 100 weiße Toastbrotscheiben. Das Publikum: Tausende Südkoreaner vor ihren Smartphones oder PCs. Die Frau wird die 100 Scheiben essen, mit Margarine, Marmelade und Käse. Und die Fans werden ihr dabei zusehen und im Sekundentakt Nachrichten schicken.

Was da passiert heißt "Mukbang" - ein koreanisches Kunstwort aus den Wörtern "Essen" und "Senden". Das Phänomen gibt es seit gut zehn Jahren in Südkorea. Sogenannte Broadcast Jockeys senden live, wie sie Unmengen an Nahrungsmitteln verdrücken: 100 Toasts, kiloweise Spaghetti oder auch ein koreanisches Barbecue für acht Personen. Die Fans sind via Live-Chat dabei und beschenken die BJs mit einer virtuellen Währung: Ein "Star Balloon" ist 10 US-Cent wert.

Die Berühmtheiten der Szene können demnach ganz gut von ihren Fressfesten leben. Park Seo-Yeon alias "BJ Diva" soll zu ihren besten Zeiten 9000 Dollar im Monat verdient haben. Heute weilt sie im Mukbang-Ruhestand - der Stress. Alles Freakshow und Fetisch? Sicherlich auch. Mukbang hat schon einigen Soziologen den Kopf zerbrochen. Die südkoreanische Gesellschaft hat mit Vereinsamung und Leistungsdruck zu kämpfen und ist grundsätzlich eher auf Diät.

BJs mit großem Appetit und richtig guter Laune schlagen da als Stellvertreter über die Stränge, personifi zieren eine unersättliche Rebellion. Sie geben den Zuschauern die Zufriedenheit, die entsteht, jemanden viel und gern essen zu sehen. Und sie nehmen ihnen die Einsamkeit nach einem langen Tag, der allein vor dem Mikrowellengericht endet. Soweit die Theorie. Die junge Frau schiebt die letzte Ecke der hundertsten Toastbrotscheibe in ihren Mund. Sie wirkt immer noch glücklich und winkt in die Kamera. Der Clip ist zu Ende, und man muss unweigerlich an Bertolt Brecht denken: "Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroff en. Den Vorhang zu und alle Fragen off en."

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