MS-Patientin im Altenheim:"In mir wütet ein Vulkan"

Altenheim Krefeld

Seit zwei Jahren lebt die 47-jährige Katrin Sickert im Altenheim und bloggt über die Bewohner.

(Foto: Felicitas Kock)

Katrin Sickert ist 47 und lebt seit einem Multiple-Sklerose-Schub vor zwei Jahren in einem Krefelder Altenheim. In ihrem Blog schreibt sie über die Spleens der Bewohner, über die Wut in ihrem Inneren - und erlaubt Einblicke in den Alltag der Alten.

Von Felicitas Kock, Krefeld

Der Wurzelsepp sitzt auf seinem Bett und sucht nach den Namen der Verstorbenen. Er will wissen, wer schon tot ist, aber dafür braucht er den Brief. Er schimpft eine Weile vor sich hin, dann springt er auf den Boden, um einen Blick unter das Bett zu werfen. Nichts. Der Wurzelsepp ist 93 Jahre alt und Katrin Sickert ist erstaunt, dass er sich noch hinknien kann. Mehrmals hat sie schon befürchtet, dass sein Name in einem Brief, auf einer Verstorbenen-Liste, stehen könnte. Dass er als Stein in einer Glasröhre im Garten landet wie alle, die vom Gerhard-Tersteegen-Haus (GTH) in Krefeld aus ihre letzte Reise antreten.

Seit zwei Jahren lebt Katrin Sickert jetzt hier im Pflegeheim, in ihrem kleinen Zimmer im zweiten Stock. Hellblauer Linoleumboden, helle Wände, ein Bett, eine Regalwand, ein Holztisch mit zwei Stühlen vor dem Fenster, zwei Rollstühle, normal und elektronisch. Und neben der Regalwand steht das, was Sickerts Zimmer von den anderen unterscheidet. Ihr Tor zur Welt. Oder zumindest zum World Wide Web: Ein rollbarer Computertisch mit PC und Drucker. Das graue Ungetüm nimmt viel Raum ein, aber das nimmt Sickert in Kauf, schließlich hat es ihr in den vergangenen zwei Jahren ganz neue Räume eröffnet.

"Meine Erlebnisse im Altenheim" heißt Sickerts Blog. Mal sachlich, mal ironisch beschreibt sie dort, wie Menschen mit Demenz mit der Zeit ihr Schamgefühl verlieren. Wie sehr ihre Mitbewohner den Besuch von Angehörigen und Freunden brauchen. Und welche schrägen Angewohnheiten sich die Leute mit den Jahren zulegen.

Die Namen der Patienten sind in den Texten abgekürzt, um ihre Anonymität zu waren. Oder verfälscht, wie beim Wurzelsepp, zu dem Sickert eine besonders innige Beziehung hat. Sie führen viele Gespräche und manchmal schafft Sickert es sogar, den Wurzelsepp davon abzulenken, dass er seit dem Tod seiner Frau vor ein paar Jahren am liebsten auch sterben würde.

"Hirntumor, Multiple Sklerose oder ein schwerer Virus"

Das Pflegeheim liegt in der Innenstadt, vom Bahnhof aus sind es nur ein paar Hundert Meter. Drei Stockwerke, die sich um einen Lichthof winden, ein kleiner Garten. Gleich nebenan liegt das schickere Seidencarré, eine Seniorenresidenz für Leute, die es sich leisten können. Der Garten ist hier liebevoller gestaltet, der Speisesaal hat etwas von einer Tafelrunde. Im Tersteegen-Haus ist alles ein bisschen nüchterner, einfacher, ein Pflegeheim für alte Leute eben - mit ruhigeren Menschen, die in ihren Stühlen vor sich hindämmern und lauteren, die man durch die geöffnete Zimmertür schreien hört, die rülpsen und furzen und andere Dinge tun, die demente alte Menschen so machen.

Altenheim Krefeld

Das Altenheim in Krefeld.

(Foto: Felicitas Kock)

Katrin Sickert senkt den Altersdurchschnitt im Heim beträchtlich. Sie ist 47 Jahre alt. Als sie im Sommer 2013 einzog, war sie schon lange krank. Zum ersten Mal hatte sich die Krankheit im Dezember 1994 gezeigt. Zwischen Weihnachten und Silvester sah Sickert plötzlich doppelt, als hätte sie zu viel Alkohol erwischt. Doch sie hatte nicht getrunken. Sie ging zum Augenarzt, "einer von der feinfühligen Sorte", wie sie heute ironisch sagt. "Hirntumor, Multiple Sklerose oder ein schwerer Virus", diagnostizierte er - und schickte sie wieder nach Hause. Sickert beschloss, dass der Arzt falsch lag, dass er falsch liegen musste, und ging nicht mehr hin. Nach ein paar Tagen sah sie wieder annähernd normal.

"So eine hübsche junge Frau und schon so betrunken"

Ein halbes Jahr später wurde Sickert plötzlich auf einem Ohr taub. Sie lief Schlangenlinien. "So eine hübsche junge Frau und schon so betrunken", hörte sie von einem Passanten. Im Krankenhaus die Diagnose: manifeste MS, also Multiple Sklerose. Da war sie gerade 26. Wieder zeigte der Arzt wenig Mitgefühl. Sie war ja Apothekerin, vom Fach,"da brauche ich ihnen nichts erzählen", sagte der Mann im weißen Kittel. Katrin Sickert sagte: "Ja,ja", als habe sie verstanden. Sie stand auf und brach auf dem Weg zur Tür zusammen.

Sechs bis sieben Jahre lebte Sickert nach der Diagnose relativ normal weiter. Sie hatte gute Jahre ohne Schub und schlechte mit zwei Schüben. Sie arbeitete, spielte Waldhorn und Querflöte, ging Joggen und machte Karate. Eine Therapie begann sie nicht. So war das damals, in den Neunzigern - im Gegensatz zu heute, wo MS, eine Entzündungskrankheit in Gehirn und Rückenmark, bereits bei den ersten Anzeichen behandelt wird.

Als ihr Arzt nach mehreren Jahren doch eine Therapie empfahl, folgte eine Zeit des Herumprobierens mit verschiedenen Medikamenten. Das einzige, was wirklich half, war ein Mittel, das bei bestimmten Patienten eine potenziell tödliche Hirninfektion hervorrufen kann. Katrin Sickert hatte die Voraussetzungen für diese Nebenwirkung - und sie bekam Angst. Im September 2012 brach sie die Behandlung ab. Zwei Monate wirkte das Mittel noch, dann kam der erste Schub, dann der nächste und dann noch einer. Am Ende zwang ein besonders schwerer Schub sie Ende Juni 2013 in den Rollstuhl und machte sie zum Pflegefall. In ihre Wohnung im Hochparterre kehrte sie nie wieder zurück. Die zehn Stufen zwischen Eingang und Wohnungstür wurden zur unüberwindbaren Hürde.

"Die Jungen sterben ja nicht so schnell wie die Alten"

Bevor Sickert ihre Texte ins Internet stellt, druckt sie sie für ihre Protagonisten aus. Für Herrn R. etwa, mit dem sie sich seit mehreren Monaten Schachduelle liefert (Stand 8:5 für Herrn R., einmal unentschieden weil die Anstrengung für Katrin Sickert zu groß war und sie abbrechen mussten). Für Frau S., die immer alles vergisst, aber gerne Erlebnisse erfindet und dann ganz geschafft ist von all den Abenteuern, die sie in ihrer Fantasie durchlebt hat. Oder für Frau K., Sickerts 95 Jahre alte "Lieblings-Omi", der eine Bronchitis kürzlich schwer zu schaffen machte. Wenn jemand Einspruch erhebt, wird der Eintrag vor der Veröffentlichung geändert.

Zu Anfang sei vor allem das Personal skeptisch gewesen, sagt die 47-Jährige. Die Pfleger hätten Angst gehabt, dass sie negativ über den Pflegealltag schreiben würde. Nur der Chef habe von Beginn an hinter ihr gestanden. "Ist doch klar", sagt Stefan Blinzler, "eine bessere Werbung für unsere Einrichtung gibt es nicht". Angehörige und Außenstehende bekämen durch den Blog Einblicke in den Alltag der Bewohner, die ihnen normalerweise verwehrt blieben. Ob nun eine Klaviergruppe vorbeikommt, ob Vorträge gehalten werden oder der Boden in einem der Wohnbereiche ausgetauscht wird - Katrin Sickert ist überall dabei, schon allein, um Stoff für ihren Blog zu sammeln. "Ganz Reporter auf der Pirsch nach neuen, interessanten Geschichten", wie sie es ausdrückt.

Die Frage, warum sie mit nur 45 Jahren ins Teerstegen-Haus gezogen ist, beantwortet Sickert mit ergebenem Schulterzucken: Weil es in Krefeld keine geeignete Einrichtung für jüngere Pflegefälle gibt und sie nicht nach Mönchengladbach oder Düsseldorf umziehen wollte. In Krefeld bekommt sie Besuch von ihren Eltern, ihrer Schwester, ihrem Neffen. Hier ist sie aufgewachsen. Und selbst wenn sie umziehen wollte: Die Plätze in Pflegeheimen für jüngere Leute sind auch in anderen Städten rar. "Die Fluktuation ist dort geringer", sagt Sickert trocken, "die Jungen sterben ja nicht so schnell wie die Alten."

Wütend wird über ihre eigene Hilflosigkeit

Im Teerstegen-Haus sterben 40 bis 60 Menschen im Jahr, sagt Sickert. Dass es so viele sind, liege auch an der Wachkomastation im vierten Stock. Wer geht, bekommt einen Stein mit Name, Geburts- und Todesdatum. Die Steine werden im Garten in Glasröhren aufbewahrt, als sichtbares Andenken an die ehemaligen Bewohner. Ob sie selbst einmal dort enden wird, als Stein in einer Glasröhre, wolle sie nicht wissen, sagt Sickert. Überhaupt versuche sie, sich wenig Gedanken über die Zukunft zu machen.

Altenheim Krefeld

Im Teerstegen-Haus sterben 40 bis 60 Menschen im Jahr. Wer geht, bekommt einen Stein.

(Foto: Felicitas Kock)

Fast jeden Tag schreibt sie einen neuen Blogeintrag. Nicht immer geht es dabei um die anderen Bewohner. Vor allem wenn sie sich ärgert, wird Katrin Sickert persönlich. Wenn sie wütend wird über ihre eigene Hilflosigkeit. Sie habe immer funktioniert, sagt die 47-Jährige und ihre Stimme wird eine Nuance höher, weil sich Wehmut hineinmischt, aber auch ein anklagender Unterton. Sie sei gut in der Schule gewesen, gut im Studium, gut im Job. "Und jetzt muss ich nach der Schwester klingeln, wenn ich nachts zur Toilette muss." Sie ist durch die Krankheit schnell erschöpft. Wenn sie sich längere Zeit konzentriert, muss sie sich danach erst einmal ausruhen.

Die Anstrengung zeigt sich körperlich. Als Sickert morgens in ihrem Zimmer empfängt, wirkt sie beinahe jugendlich. Helles Shirt, helle Jacke, die dunklen Haare werden mit zwei Klammern aus dem Gesicht gehalten. Die dunklen Augen huschen wach durch den Raum, sie mustert ihr Gegenüber, beantwortet Fragen präzise. Nach anderthalb Stunden lässt die Konzentration nach. Katrin Sickert strengt sich an, sie kämpft, das ist spürbar. Nach dem Mittagessen und der Physiotherapie wird sie sich kurz hinlegen müssen, um neue Kraft zu tanken. "Weil ich sonst zu k.o. bin, das muss man sich mal vorstellen", sagt Sickert kopfschüttelnd.

Ihre Situation zu akzeptieren, wäre wahrscheinlich am gesündesten, schreibt sie in ihrem Blog. Es würde ihr weniger Kummer bereiten. "Aber in mir wütet ein Vulkan!" Sie könne nicht anders, als mit ihrem Schicksal zu hadern. Und sie nutzt ihren Blog als Ventil für ihren Ärger.

"Einen wollte ich nicht, der andere wollte mich nicht"

Anders als im Alltag hat sie im Netz durch ihre Krankheit keinen Nachteil. Sie kann sich die Schrift größer stellen. Sie kann sich Textstellen vorlesen lassen, wenn die Augen müde werden. Sie kann immer wieder Pausen machen, bevor sie einen Beitrag veröffentlicht, kurzum: Sie kann das Netz in ihrem Tempo für ihre Belange nutzen. Und das funktioniert in beide Richtungen. Denn Katrin Sickert gibt der Welt nicht nur Einblicke in ihr Leben im Altenheim, sie holt sich auch die Welt in ihr Zimmer.

Um ihre Mitbewohner besser zu verstehen, hat sie sich eine Menge Fachwissen zum Thema Demenz ergoogelt. Um sich über ihre eigene Krankheit auszutauschen, chattet sie mit anderen Erkrankten und ist im Forum der Deutschen Multiple-Sklerose-Gesellschaft aktiv. Sie tauscht sich mit der Bloggercommunity aus, in der sie, wie sie sagt, schon ein paar nette Leute kennengelernt hat. Und zweimal hat sie das Netz schon genutzt, um Männer zu treffen. Leider ohne großen Erfolg: "Einen wollte ich nicht, der andere wollte mich nicht."

35 Kommentare hat ihr wütender Beitrag bekommen, in dem sie über ihre Unfähigkeit schimpft, die Krankheit zu akzeptieren. Menschen, die sie nur virtuell kennt, drücken ihr Verständnis aus, sprechen ihr Mut zu. Sie solle doch schauen, dass sie aus dem Altenheim herauskomme. Mit so vielen alten Leuten zusammenzuleben, da könne man doch nur verrückt werden, schreibt eine. "Ich fühle mich eigentlich ganz wohl hier", antwortet Sickert. Mit Gleichaltrigen kann sie in der realen, analogen Welt nicht mehr mithalten. Ihren Mitbewohnern ist sie in manchen Dingen sogar voraus. Sie ist im Bewohnerbeirat, kümmert sich, hat ihren Platz in der Gemeinschaft. Und ihren Blog, den mittlerweile fast 1000 Menschen abonniert haben. 1000 Leser, die auf Neuigkeiten vom Wurzelsepp warten, dem Sickert nach seiner Suche unter dem Bett nur mit Mühe wieder aufhelfen konnte. Denn hinknien konnte er sich noch. Alleine hochgekommen wäre er nicht mehr.

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