Moulin Rouge:Wo die Röcke und Beine noch immer fliegen

BESTPIX - The Moulin Rouge Celebrates Its 130 Anniversary

Legendär: Sie ist die wohl bekannteste Mühle von Paris und feiert in diesem Jahr 130-jähriges Bestehen: Moulin Rouge. Das Varieté im Künstlerviertel Montmartre, wurde für seine Cancan-Tanz-Shows weltberühmt.

(Foto: Pascal Le Segretain/Getty Images)

Cancan gegen Prüderie: Vor 130 Jahren war das Moulin Rouge subversiv. Ist dieser Sehnsuchtsort noch zeitgemäß? Ein Besuch hinter den Kulissen eines faszinierenden Familienbetriebs.

Von Nadia Pantel

Froufrou ist ein schönes Wort. Es ist französisch und heißt Rüschen, und so klingt es auch. Man fühlt, wie die Welt um einen herum sich zu bauschen beginnt, wenn man es sagt; wie es raschelt und knistert. Geräusche, die man übrigens auch mit froufrou übersetzen kann.

"Was ziehen wir denn an?", hatte die Freundin gefragt, die an diesem Sonntag mit dabei ist beim Geburtstagsbesuch im Moulin Rouge. Nachdem sie ihren Mantel über den Stuhl gelegt hat und bevor sich vorne auf der Bühne der Vorhang öffnet, zeigt sie stolz auf ihre Rüschenbluse: "Froufrou!" Rüschen. Wer trägt das eigentlich noch? Und Moulin Rouge. Wer geht da eigentlich noch hin? Ein Kleidungsstück, das sich anfühlt wie eine Verkleidung, für einen Abend, der sich anfühlt wie eine Zeitreise.

130 Jahre wird das Moulin Rouge in diesem Jahr alt. Zum Jubiläum drängen sich die Passanten auf dem Boulevard de Clichy. Mit Licht und Laser werden die Höhepunkte eines Jahrhunderts Cabaret an die Außenfassade projiziert. Darunter auch dieses Datum: 1963, Premiere der Revue "Frou-Frou". Danach posieren die Tänzerinnen im Herbstwind, und kleine Mädchen lassen sich mit halbnackten Frauen fotografieren, die durch ihren riesigen Kopfschmuck viermal größer sind als sie.

Das Ganze hat ungefähr den Glamour der Schlussszene des "Traumschiffs", wenn das Licht ausgeht und die Köche Eisbomben hereintragen, in denen Wunderkerzen stecken. Man hätte gerne seine Oma dabei, weil der das vielleicht eine Gänsehaut machen würde, und dann hätte man vor Rührung auch eine.

Ein Mehrgenerationenausflug ins Moulin Rouge. Jean-Victor Clérico findet das eine völlig angemessene Idee. Der 32-Jährige sitzt in einem kleinen Büro zwei Etagen über der berühmten Bühne. Brille, Sakko, exakt gestutztes Haar, freundlich, verbindlich. Clérico benimmt sich nicht nur wie der Chef eines mittelständischen Betriebes, er ist auch einer. 1955 kaufte sein Urgroßvater das Moulin Rouge, 1963 entwickelte sein Großvater die inzwischen legendäre "Frou-Frou"-Revue. Die Show wurde so ein Erfolg, dass die Cléricos seitdem, aus Aberglaube, alle ihre Revuen mit F beginnen lassen. "Fascination", "Fantastic", "Formidable".

Moulin Rouge

Das Moulin Rouge im Viertel Pigalle ist für Touristen eine Attraktion, Pariser verirren sich selten in eine der Shows, die sich seit 1963 wenig verändert haben.

(Foto: Jim Heimann Collection/Getty Images)

Seit zwanzig Jahren sind sie jetzt bei "Féerie", Zauberwelt. Das F vor den Revuen könnte auch für familienfreundlich stehen. Mit den Cléricos beginnt die Domestizierung des Cabarets. Weniger Bohème, mehr Service. Kein wilder Abend, dafür wird ein Drei-Gänge-Menü serviert, während auf der Bühne die Beine geschwungen werden.

Wie jedes gute Theater ist auch das Moulin Rouge eine eigenständige kleine Stadt. Mit Schuhmacher, Kostümbildnerin und Großküche. Im Keller haben sie einen Stall, der ein wenig stinkt, wenn man an ihm vorbeigeht, und in dem Ponys darauf warten, für ein paar Minuten von einer Frau mit Jockey-Jacke und Tanga über die Bühne geführt zu werden. Die Bürgermeister dieser Stadt sind, als Doppelspitze, Clérico und seine Schwester. Er hat Finanzwissenschaften studiert und kümmert sich ums Management, sie ist fürs Marketing verantwortlich. Es ist also möglich, zwischen Showtreppe, Glitzerhöschen und Federboas aufzuwachsen und sich in erster Linie für Zahlen zu begeistern.

Schon Kinder ab sechs Jahren sind im Moulin Rouge willkommen

Die erste Moulin-Rouge-Revue, an die er sich erinnern kann, sah Clérico noch vor seiner Einschulung. "Es gehört zu den großen Missverständnissen", sagt der Cabaret-Bürgermeister, "wenn die Menschen glauben, das sei hier nichts für Kinder." Ab sechs Jahren ist man im Moulin Rouge willkommen. Und tatsächlich wird man an jeder durchschnittlichen Bushaltestelle mit mehr Erotik konfrontiert als hier. Es ist eher, als würde man einen Zirkus besuchen. Mit Jonglage, Schlangenfrau und einer ganzen Riege Clowns. Der Unterschied ist nur, dass die Clowns keine Witze machen, sondern Frauen in bunten Hosen und ohne Oberteil sind. Alles, was man als Kind beherrschen muss, um hier gut durch den Abend zu kommen, ist, ungefähr so still zu sein wie eine Gruppe angetrunkener Amerikaner. Denn die sitzt mit großer Wahrscheinlichkeit am Nachbartisch. Ein wenig kreischen ist also erlaubt.

"Die Menschen im Publikum reagieren immer", sagt Mathilde Tutiaux. Sie schreien auf, wenn eine der Tänzerinnen in ein Bassin mit lebendigen Schlangen steigt. Sie jubeln, wenn Tutiaux und ihre Kolleginnen den Cancan tanzen. Sie seufzen vor Glück, wenn fürs Abschlusstableau das Licht gedimmt wird und die pinken Plüschkostüme zu leuchten beginnen.

Um zu Tutiaux' Garderobe zu gelangen, muss man unter einem Himmel voller Federn hindurchgehen. Die Kostüme und Hüte der Tänzerinnen und Tänzer hängen sauber geordnet von der Decke. Im Moulin Rouge sind sie so verliebt in den Vogellook, dass sie ihren eigenen Federschmuckfabrikanten haben, beziehungsweise kürzer, hübscher und französischer: ihren eigenen Plumassier. Es ist die Maison Février, seit 1929 im Geschäft.

Hätte nicht schon Clérico klargestellt, dass es sich beim Moulin Rouge und seinen Partnerbetrieben um solide Familienunternehmen handelt, spätestens von Tutiaux würde man es erfahren. Seit acht Jahren tanzt die 31-Jährige im Moulin Rouge. In ihrer Garderobe hängt neben dem Schminkspiegel ihr Hochzeitsfoto. Tutiaux betont die sportliche Herausforderung des Jobs (zwölf Auftritte pro Woche), die fairen Bedingungen ihres Vertrags (Festanstellung) und die Freude, die ihre Eltern haben, wenn sie regelmäßig im Publikum sitzen. Doch bei aller Bodenhaftung: Tutiaux weiß auch, dass sie ein lebender Mythos ist. Eine Tänzerin im Moulin Rouge. Vor Kurzem saß Céline Dion im Publikum. Das Ensemble fieberte auf den Abend hin. Ein echter Star im Saal. Beim Schlussapplaus stand Dion dann auf und jubelte ihnen zu. "Dabei waren wir doch ihre größten Fans, nicht umgekehrt", sagt Tutiaux.

Seit Jahrhunderten sind die Pariser daran gewöhnt, dass die Welt von ihrer Stadt träumt. Das Moulin Rouge lebt von dieser Sehnsucht. "Die Pariser selbst kommen nicht zu uns", sagt Clérico. Warum nicht? "Na ja, ich steige ja auch nicht auf den Eiffelturm."

Im Saal werden jährlich 240 000 Flaschen Champagner entkorkt

In Berlin kommt auf jeden Menschen, der einen Rollkoffer durch die Stadt zieht, ein Einheimischer, der ihn empört anschaut und laut oder leise für die steigenden Mieten verantwortlich macht. In Paris haben sie den Touristen einfach eine Parallelwelt eingerichtet, in der die Gäste viel Geld ausgeben und selten vom vorgegebenen Weg zwischen Louvre und Champs-Élysées abkommen. Das Moulin Rouge ist für viele ein unverzichtbarer Teil ihres Paris-Parcours. 900 Menschen passen in den Saal, 600 000 Zuschauer kommen pro Jahr, die Shows sind fast immer ausverkauft. Im Saal werden jährlich 240 000 Flaschen Champagner entkorkt. Seit Neuestem gibt es auch einen Nachtclub. Er heißt so, wie man eigentlich den gesamten Laden nennen müsste: La Machine, die Maschine.

Als das Moulin Rouge am 6. Oktober 1889 eröffnet wurde, war die Französische Revolution gerade hundert Jahre alt geworden. Die Stadt ärgerte sich über den frisch gebauten Eiffelturm, den alle zunächst furchtbar hässlich fanden, so wie es üblich ist bei großen Gebäuden, die man nicht von den Vorfahren geerbt hat. Wenn das Moulin Rouge heute eine Maschine ist, dann auch deshalb, weil es in einer Zeit entstanden ist, die in Paris so sehr verklärt wird wie keine andere: die Belle Époque. Die Zeit des Fin de Siècle, in der das 19. Jahrhundert endete.

Im Rückblick stehen diese Jahrzehnte für Frieden, wirtschaftlichen Aufschwung und die fliegenden Röcke im Moulin Rouge. Den geballten Hedonismus dieser Ära kann man gut an den Attraktionen ablesen, die sich die Macher des Moulin Rouge überlegten. Ein riesiger Elefant wurde gebaut, der das gesamte Theater überragte und in dessen einem Bein sich die geheime Bühne einer Bauchtänzerin verbarg. Später errichteten sie im Hinterhof eine Achterbahn.

Der berühmte Cancan, der heute im Moulin Rouge in erster Linie begeistert, weil Frauen mit sehr langen Beinen diese sehr hoch in die Luft werfen, entsteht als getanzte Subversion. Frauen zeigen beim Tanzen ihre Unterhosen oder den Umstand, dass sie keine anhaben. Und gleichzeitig salutieren sie militärisch und lehnen für die Nummer "La Cathédrale" ihre Körper so aneinander, dass sie gotische Bögen imitieren. Gegen die Prüderie, gegen den Staat, gegen die Kirche.

Im Moulin Rouge treffen sich in dieser Zeit die Reichen und die Wilden. Diejenigen, die frei sind, weil sie sich alles leisten können. Und diejenigen, die frei sind, weil sie wenig zu verlieren haben.

Wenn sich heute doch mal besser situierte Pariser ins Moulin Rouge verirren, dann sind sie nicht auf der Suche nach sexuellen Abenteuern, sondern nach Avocadotoast. Nicht nur das Moulin Rouge ist zahm geworden, auch das Viertel, in dem es liegt. Früher war Pigalle Synonym für Exzess, Prostitution und Halunken. Heute muss man eher Groß- denn Kleinganove sein, um sich die Miete in den Straßen ums Moulin Rouge leisten zu können. Edle Hotelbars hängen hier Pornomotive in ihre Lobbys und spielen mit der Vergangenheit des Viertels wie mit einem Wohnaccessoire.

Dieser teuer gewordenen Nachbarschaft will Clérico etwas bieten. "Vielleicht kommen die dann ja irgendwann auch später mal ins Cabaret", sagt er. Und so lockt er mit einer Dachterrasse, auf der am Wochenende gefrühstückt werden kann. Man sitzt genau auf Höhe der berühmten Mühle und schaut den Flügeln von hinten dabei zu, wie sie sich drehen. Am Boulevard de Clichy verrät kein Schild, keine Speisekarte dieses Geheimnis. Unten im Saal empfangen sie die Touristen mit offenen Armen, oben auf dem Dach sollen die Pariser ihre Ruhe haben vor Selfies, Funktionsjacken und bewunderndem Staunen.

Doch so richtig trennen lassen sich die Welten im Moulin Rouge nicht. Warum auch?

Schließlich sind auch Pariser anfällig für die Nostalgie, die ihre Stadt auslösen kann. Für die Ehrfurcht, die sich einstellt, wenn man die Namen all derer liest, die im Moulin Rouge schon auf, hinter oder vor der Bühne standen. Henri de Toulouse-Lautrec natürlich. Das Plakat, das er in den Anfangsjahren des Moulin Rouge für den Maskenball des Theaters malte, hängt heute als Poster im Foyer. In den Vierzigerjahren trat Édith Piaf auf, dort und an ihrer Seite wurde Yves Montand berühmt. Später sangen unter anderem Charles Aznavour, Frank Sinatra und Ella Fitzgerald auf derselben Bühne.

Paris ist so satt an Geschichte, dass es der Vergangenheit immer wieder gelingt, sich an Reiseführern und Hinweistafeln vorbeizuschmuggeln. Das Moulin Rouge ist einer dieser Orte, an denen man plötzlich in das Jahr 1953 stolpern kann. Allerdings nicht unten im Saal und auch nicht oben beim Avocadotoast.

Die Frauen entscheiden, ob sie oben ohne auftreten wollen

Um dorthin zu gelangen, wo die Zeit stehen geblieben ist, muss man zunächst Mine Verges besuchen. Verges entwirft die Kostüme des Moulin Rouge, sie hat schon für Josephine Baker gearbeitet, die Sängerin Nana Mouskouri nennt sie eine Freundin. Ob die Frauen oben ohne auftreten, entscheidet nicht Verges, sondern die Tänzerinnen selbst. Wer größere Brüste hat, trägt meist BH. Und weil es das 21. Jahrhundert ist, lassen auch die glitzernden Jäckchen der Tänzer freien Blick auf den Oberkörper. Warum so viel nackte Haut, wenn gleichzeitig der gezeigte Hüftschwung so brav ist wie bei einem Wettbewerb für rhythmische Sportgymnastik? "Weil diese Körper einfach schön sind", sagt Verges.

Sie arbeitet in ihrem Atelier mit Sonnenbrille. Wenn man von dort aus tatsächlich in die Sonne tritt, findet man sich auf der hinteren Terrasse des Moulin Rouge wieder. Verges empfiehlt den Weg über die Terrasse als Abkürzung zur Metro. Doch eigentlich ist er eine Abkürzung in eine andere Epoche.

Hier oben steht das alte Motorrad von Boris Vian. Es rostet vor sich hin zwischen Badewannen, in die irgendjemand Blumen gepflanzt hat. In den Fünfzigerjahren teilte sich Vian diese Terrasse mit Jacques Prévert. Der Musiker-Autor-Schauspieler Vian und der Dichter Prévert waren Nachbarn auf dem Dach des Moulin Rouge.

Man kann Vian unter anderem dafür lieben, dass er in seinem bekanntesten Roman "Der Schaum der Tage" ein Cocktail-Piano erfindet. Der Durstige spielt eine Melodie auf dem Klavier, und im Inneren des Instruments setzt sich eine Apparatur in Bewegung, die, passend zur jeweiligen Stimmung, genau die richtige Alkoholmischung zusammenrührt.

Klar, so was können heute Algorithmen. Wahrscheinlich verbindet sich bald automatisch der Musikstreaming-Account mit dem Lieferdienst-Konto. Und wenn man am Computer die Erkennungshymne der "Féerie"-Revue anmacht ("Danse, danse, Paris, danse"), wird sofort ein unterbezahlter Mensch aufs Fahrrad geschickt, der einem eine gut durchgeschüttelte Flasche Champagner nach Hause liefert. Oder Wodka Red Bull, wenn man sich für den "Moulin Rouge"-Filmsong von Christina Aguilera aus dem Jahr 2001 entscheidet. Das wäre technische Innovation. Vian hingegen war Magie.

Solche kulturpessimistischen Sätze schreibt man natürlich nur, wenn einen die Pariser Nostalgie schon infiziert hat. Und wenn man beim Verlassen des Hinterausgangs des Moulin Rouge andächtig im Hausflur stehen geblieben ist. Am Briefkasten oben links klebt ein unauffälliges Namensschild: "Boris Vian". Falls immer noch Fanpost kommt. Daneben der Name seiner Frau, Ursula Kübler, die erst 2010 gestorben ist. Vier Briefschlitze weiter unten steht "Prévert".

Man kann hier keine Postkarten kaufen, sich keinen Rotwein servieren lassen und nicht durch Vians altes Schlafzimmer laufen wie durch ein Museum. Doch man kann finden, was Prévert in seinem Gedicht "Der Garten" beschreibt: "die kleine Sekunde Ewigkeit".

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