Familie:Nur keine Panik

Momo challenge

Das Momo-Foto zeigt eigentlich eine Skulptur des japanischen Künstler Keisuke Aiso.

(Foto: Collage: SZ)

Vor einem Jahr warnten Millionen Eltern vor der Horrorfigur "Momo" - und machten sie damit erst groß. Wie geht man sinnvoll mit solchen Fakes um?

Von Jan Stremmel

An einem Dienstagvormittag im Februar ging alles von vorne los. "Bitte lesen, das ist echt", schrieb eine Frau auf Twitter: "Es gibt etwas namens ,Momo', das Kindern sagt, sie sollen sich umbringen. Informiert jeden, den ihr könnt!" Innerhalb weniger Tage wurde die Warnung mehr als 20 000 Mal geteilt, allein auf Twitter. Da war Iren Schulz dann doch ein wenig überrascht.

Die Erfurter Medienwissenschaftlerin kannte das Phänomen "Momo" seit dem vorigen Sommer. Schulz berät Eltern und Kinder im Umgang mit Medien, sie arbeitet für eine Initiative des Familienministeriums. Die Angst vor "Momo" hatte im August 2018 begonnen. Eltern und Kinder erzählten ihr von Whatsapp-Nachrichten und versteckten Botschaften in Youtube-Kindervideos, in denen eine Art Puppe Kinder dazu auffordere, sich zu verletzen. Andernfalls werde "Momo" nachts auftauchen und sie umbringen. Ein zweiter Schub kam im November, sagt Schulz, "eigentlich dachte ich, damit ist es durch."

Aber dann rollte die dritte Welle der Elternpanik über die Expertin hinweg. Es wurde die bislang größte. Die sogenannte Momo-Challenge ist für Schulz der hartnäckigste digitale Kettenbrief seit Jahren. Heute ist klar: Das Ganze war ein Fake, kein Kind kam deshalb nachweislich körperlich zu Schaden. Die wenigen Videos und Whatsapp-Nachrichten, in denen tatsächlich "Momo" auftauchte, stammten von Trittbrettfahrern, die wohl erst durch die Berichterstattung davon gehört hatten. Zwar gab es immer wieder Gerüchte, Kinder hätten sich verletzt oder gar umgebracht, weil sie Anweisungen von "Momo" befolgt hätten - auch die Münchner Polizei vermutete das in einem Fall, die SZ berichtete.

Aber der Verdacht bestätigte sich nicht. Trotzdem schien zwischenzeitlich die halbe Welt Angst vor dem Gesicht mit dem starren Blick und dem grotesk verzerrten Mund zu haben. Angebliche Botschaften von "Momo" wurden in Japan und Argentinien gemeldet. Schulen und sogar die Polizei in Mexiko, Spanien und Großbritannien gaben offizielle Warnungen heraus. Im Februar teilte Kim Kardashian West den Kettenbrief via Instagram mit ihren damals knapp 130 Millionen Followern.

"Vielleicht war die Warnung vor dem Kettenbrief in diesem Fall der wahre Kettenbrief"

Ein halbes Jahr später erinnern nur noch die offenbar recht beliebten "Momo"-Halloweenmasken an die Aufregung. Aber für viele Eltern bleibt eine Frage ungeklärt: Wie sollen sie künftig mit solchen Horrormeldungen umgehen? Wie schützt man seine Kinder überhaupt, ohne sie gleichzeitig unnötig zu erschrecken?

Klar ist: Bei dem Thema gibt es Aufklärungsbedarf. Die Zeitleiste des viralen Fakes deutet daraufhin, dass es, neben sensationsheischenden Boulevardmedien, offenbar vor allem Eltern waren, die die fiktive Challenge auf Social Media groß gemacht haben. Ohne ihre überstürzten Warnungen wäre "Momo" wohl nie zu einem globalen Phänomen geworden. Rückblickend sagt auch die Expertin Nadine Berneis vom Verein Deutschland sicher im Netz: "Vielleicht war die Warnung vor dem Kettenbrief in diesem Fall der wahre Kettenbrief."

Wie aus einem Fake Realität wird

Man kann es den Eltern natürlich kaum verübeln. Es vergeht schließlich kaum eine Woche, in der keine Nachricht über ungeahnte Abgründe im Internet bekannt wird - zuletzt etwa die, dass sich rechte Extremisten wie der Attentäter von Halle offenbar ungestört auf harmlosen Gaming-Plattformen austauschen. Wer würde da nicht sofort glauben, dass es auch Menschen gibt, die Kinder aus Spaß zu lebensgefährlichen Aktionen auffordern, etwa, nachts heimlich den Herd anzuschalten? Das ist das eine.

Andererseits ist mittlerweile auch unter Netz-Trollen bekannt, dass in der elterlichen Mischung aus Unwohlsein und Unbeholfenheit sehr viel Potenzial für einen viralen Hit steckt. Berichte über angeblich gerade total trendige "Challenges", mit denen sich Jugendliche leichtsinnig in Gefahr brächten, klicken sich hervorragend - unabhängig davon, wie viel dahintersteckt. Mal lautet die Horrornachricht, Kinder würden als Mutprobe Waschmittelkapseln schlucken (die sogenannte "Tide Pod Challenge"), ein anderes Mal erstickten Jugendliche angeblich fast, weil sie Kondome durch die Nase hochzogen oder versuchten, einen Löffel Zimt zu schlucken.

Die Spirale dreht sich dann jedes Mal ähnlich: Lokale Fernsehsender und Boulevardseiten im Netz berichten unbestätigte Gerüchte als Fakten. Eltern warnen daraufhin andere Eltern über Facebook- und Whatsapp-Gruppen. Möglicherweise erfahren die Kinder jetzt schon davon, spätestens aber im nächsten Schritt: wenn Youtuber und andere Influencer die Sache zum Spaß aufgreifen, weil sie Klicks verspricht. So kommen dann, im dritten Schritt, böswillige Scherzkekse auf die Idee, das Ganze in die Tat umzusetzen. Und zum Beispiel tatsächlich Kettenbriefe mit Todesdrohungen zu verschicken oder eine Botschaft von "Momo" in ein "Peppa Wutz"-Video zu schneiden und hochzuladen.

Damit wird aus Fake News Realität. Die kann dann - im Gegensatz zu "Momo" selbst, deren Gesicht zu der Skulptur eines unbeteiligten japanischen Künstlers gehörte - mitunter tatsächlich gefährlich werden. Etwa, weil die aufgeregte Diskussion psychisch labile Menschen mit dem Thema Suizid konfrontiert. Davor warnten britische Telefonseelsorger. Oder aber, weil sich Kinder verletzen, während sie ironisch an der Challenge teilnehmen. Nach wochenlanger weltweiter Berichterstattung über die "Planking-Challenge", bei der sich Teenager angeblich massenweise zum Spaß an riskanten Orten brettsteif auf den Bauch legten, stürzte 2011 tatsächlich ein junger Australier von einem Balkongeländer in den Tod.

Die Kraft solcher Hypes speist sich aus dem Unwohlsein, das wohl jede Mutter und jeder Vater kennt: Was macht mein Kind da eigentlich den ganzen Tag im Netz? Mit wem spricht es? Und worüber? Abgesehen davon, dass das wichtige und legitime Fragen sind, über die es sich lohnt, mit jedem Kind zu reden, ist die Sorge erst mal nichts Neues. Die New York Times verglich die "Momo"-Aufregung mit der sogenannten "Satanic Panic" aus dem vergangenen Jahrhundert. Damals machte sich unter amerikanischen Eltern unter anderem die Angst breit, in rückwärts abgespielten Rock-Schallplatten versteckten sich satanische Botschaften an ihre Kinder. Albern? Vielleicht. Aber die Sorge vor lauernder Gefahr in unbekannten Sphären dürfte durch den Einzug des Smartphones ins Kinderzimmer nicht gerade kleiner geworden sein.

Dabei sind manche Erwachsene mitunter ebenso leichte Ziele im Netz wie ihre Kinder, wie die Medienpädagogin Nadine Berneis nebenbei anmerkt. Seit einigen Jahren etwa teilen Eltern immer mal wieder massenhaft einen Kettenbrief. Der Inhalt ist nicht gruselig, sondern verlockend: Er verspricht 500 Euro Kindergeld extra. Man muss sich und seine Familie lediglich unter einem zweifelhaft klingenden Link anmelden. Inklusive aller persönlicher Daten.

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