Süddeutsche Zeitung

Moderne Sammelwut:Wenn Besitz zur Last wird

Lesezeit: 3 Min.

Der Mensch bunkert viele Dinge aus Angst vor Notlagen. 10.000 Gegenstände häuft ein Durchschnittseuropäer an. Doch blinder Besitzwahn kann zur seelischen Belastung werden - und das Sexualleben beeinträchtigen.

Silke Bigalke

Hermann Hesse, John Irving und Guru Bhagwan haben ihn sein Leben lang begleitet. Irving im Studium, Hesse auch später noch. Und Bhagwan brachte ihn auf die skurrile Idee, in rotem Gewand zur Psychologie-Prüfung zu erscheinen. Zum Ärger der Dozenten. Deswegen konnte sich Roland Kopp-Wichmann lange nicht von den Werken trennen. Doch nun ist Schluss: Der Literatur-Liebhaber gab nahezu 1000 Bücher weg. Fünf Wochenenden dauerte die Auswahl, nur 400 Exemplare ließ er übrig. Doch dem Trennungsschmerz folgte die Erleichterung. "Ich hatte nach Jahren wieder Raum für mich", sagt Kopp-Wichmann, inzwischen 62.

Platz für Neues, damit werben auch die zahlreichen Ratgeber, die beim Ausmisten helfen wollen. Die Mode der leeren Räume begann mit dem Bauhaus-Stil in den zwanziger Jahren und gipfelt heute im Beruf des Wegwerfberaters, der Wohnungen von allem Überflüssigem befreit. Als solcher arbeitet Clemens Neuhauser nach dem Motto "Besitz soll uns bereichern, nicht belasten".

Ängstlich und bepackt kann niemand erfolgreich sein

Wer zu ihm kommt, hat einen langen Leidensweg hinter sich. Ein Klient etwa hielt es in seinem vollgestopften Schlafzimmer nicht mehr aus, sein Sexleben litt. Neuhauser sortierte als Erstes einen Karton mit alten Rechnungen aus, die Fotos von verflossenen Partnerinnen und die Kuscheltiere der ausgezogenen Kinder. Danach ging es dem Bewohner besser.

Eine Frau versuchte seit Jahren vergeblich, sich vom Hochzeitsgeschenk ihres Ex-Mannes zu trennen, einem Set Sektgläser. "Während unserer Gespräche wurde ihr klar, dass sie die Gläser als Art Reparationszahlung für das Leid in ihrer ersten Ehe betrachtete", sagt Neuhauser. Am Ende warf sie die Gläser nicht nur weg, sondern gegen die Wand.

Mit der Frage, wann Besitz zur Last wird, hat sich auch die britische Autorin Karen Kingston befasst: Dinge, die wir nicht benutzen, die keinen festen Aufbewahrungsort haben, als ewig unerledigte Aufgaben herumliegen oder schlechte Erinnerungen wecken, sollten raus. "Wir halten nur aus Angst, wir könnten das Zeug doch noch brauchen, daran fest", sagt die Space-Clearing-Expertin. So ängstlich und bepackt könne niemand erfolgreich sein.

Wer drei Sektkühler besitzt, obwohl er nie einen benutzt, kann das nur schwer erklären. Trotzdem haben wir vieles doppelt, nehmen aus jedem Urlaub nutzlose Erinnerungsstücke mit und lassen den Haufen ungelesener Magazine jede Woche höher werden. Der Mensch bunkert aus Angst vor Mangel. Diese Überlebensstrategie funktionierte 7600 Generationen lang, hat Neuhauser errechnet. Erst seit zwei Generationen leben wir in anhaltendem Überfluss. "Wir haben nie gelernt, damit umzugehen", sagt Neuhauser.

Der Durchschnittseuropäer besitzt heute 10.000 Gegenstände. "In den Dingen, die wir aufheben, spiegelt sich unsere Persönlichkeit", sagt Kulturhistoriker Hannes Siegrist. "Sie festigen unsere Identität." Halt geben etwa Sachen, die ein junger Mensch aus dem Elternhaus mitnimmt, wenn er auszieht. Aber auch der schwarze Anzug, den auf der Arbeit alle tragen, versichert uns unserer Rolle.

Früher hat Eigentum die Menschen mehr als heute einer Gruppe zugeordnet. In der frühen Neuzeit sorgte beispielsweise die Luxusverordnung dafür, dass reiche Bauern nicht zu sehr in ihrem Wohlstand schwelgten. Sie regelte sogar, welchen Schmuck ein Bräutigam seiner Braut schenken durfte. "Heute gibt es keine allgemeinverbindlichen Regeln, wir müssen uns selbst kontrollieren und auswählen, was wir haben wollen", sagt Siegrist.

Was einmal in unserem Besitz ist, hat für uns allein deshalb mehr Wert, weil wir es besitzen. Ökonomen haben diesen Endowment- oder Besitztumseffekt, der den rationalen Homo oeconomicus einmal mehr widerlegt, in zahlreichen Experimenten getestet. Es war immer das Gleiche: Bekamen alle Versuchspersonen als Belohnung eine Tasse geschenkt und wurde ihnen angeboten, diese gegen Schokolade einzutauschen, wollten das die Wenigsten tun. Bekamen sie anfangs hingegen Schokolade geschenkt, wollten sie diese nicht für die Tasse hergeben.

Wertvoll trotz Kursverlust

Georg Kirchsteiger, Verhaltensökonom an der Université Libre in Brüssel, gibt der Evolution die Schuld an unserem Besitztumswahn. Menschen mit starkem Endowment-Effekt haben sich in der Vergangenheit besser durchgesetzt als andere. "Wer bei einem Tausch weniger bereit ist, sein eigenes Gut herzugeben, hat gegenüber dem anderen Drohpotential, um den Preis hochzutreiben", sagt Kirchsteiger. Das ist ein überlebenswichtiger Vorteil bei jedem Handel.

Heute nützt uns das höchstens noch auf dem Flohmarkt. Manche Ökonomen warnen sogar vor Schäden durch den Endowment-Effekt, etwa wenn der Besitzer an einer Aktie auf Talfahrt festhält, nur weil sie sein ist. "Für denjenigen, der sein Vermögen maximieren will, ist das ein Nachteil", sagt Kirchsteiger. Wer aber auf den Nutzen schaue, entdecke keinen Schaden. "Egal ob der Kurs schlecht ist, für den Besitzer ist die Aktie eben wertvoll."

Weil der Besitzer sein Eigentum so schätzt, pflegt er es. Ein Beispiel: Sobald in den neuen Ländern die Eigentumsfragen geklärt waren, verwandelten sich die grauen Fassaden des Sozialismus in frischrenovierte, farbenfrohe Gebäude. Eben deshalb setzt sich Otto Depenheuer, der an der Universität Köln Rechtswissenschaften lehrt, für den Schutz des Privateigentums ein. "Wir tragen Verantwortung für unser Eigentum und sind in ständiger Sorge darum", sagt er und gesteht ein: "Insofern kann Besitz auch zur Last werden."

Kopp-Wichmann hat diese Last lange mit sich herumgetragen. Trotzdem hat er gelitten, als er seine Bücherkisten zur Spende fuhr: "Es hat mich mit meiner eigenen Endlichkeit konfrontiert", sagt er. "Diese Bücher werde ich nie wieder lesen, nie wieder besitzen." Wenn er sich heute ein Buch kauft, gibt er es weg, sobald er es ausgelesen hat. Dann ist der Abschiedsschmerz noch nicht ganz so groß.

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Quelle:
SZ vom 26.04.2011
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