Moderne Geburtskultur:Der Fall ist rund

Fetisch Schwangerschaft: Die Geburt war mal ein Teil des Lebens. Heute ist sie Teil einer ganzen Industrie.

Hilmar Klute

Ende Juli dieses Jahres warf die Bild-Zeitung einen zufälligen Blick auf das Sommerkleid von Lilly Kerssenberg, fand prompt eine vielversprechende Unebenheit und konnte ihren Lesern mitteilen: "Da wölbt sich was!" Ob das eine Indiskretion war? Die Frage ist so vornehm wie naiv, denn sie löste bei Boris Beckers Ehefrau bestenfalls den Reflex aus, den Bild-Lesern einen noch tieferen Einblick in ihre augenscheinlich muntere Planungspraxis zu gewähren: "Wir sind noch nicht schwanger, aber wir üben täglich."

Lilly Kerssenberg und Boris Becker; getty

Lilly Kerssenberg und Boris Becker - sie gelten als modernes "schwangeres Paar".

(Foto: Foto: getty)

Triumphal gekrönt wurde dieses Feuerwerk intimer Mitteilungsfreude durch den Auftritt der 80-jährigen Großmutter Esseline Kerssenberg-Bradley, welche die später doch noch eingestandene Schwangerschaft der breiten Öffentlichkeit gerne bestätigte, sicher vor Glück auch ein bisschen dabei weinte. Von nun an jedenfalls begannen Bildreporter und Gesellschaftsjournalisten damit, den Bauchumfang von Lilly Kerssenberg immer wieder neu zu vermessen, als sei hier zum ersten Mal weibliche Gravidität augenfällig geworden.

Sensation dicker Bauch

Dabei hatte es doch bereits im Frühjahr ähnliche Beobachtungen bei Caroline Beil gegeben, die sich, immerhin schon einundvierzigjährig, mit Babybauch fotografieren und gleichzeitig dahingehend zitieren ließ, sie wolle anderen Frauen zeigen, dass Schwangerschaft Spaß mache. Ähnliche Aufnahmen gibt es von Heidi Klum und von Gisele Bündchen, kurz: Die Welt schaut wahlweise entrückt oder fragend auf den Bauch der werdenden Mutter.

Und dieses Hinsehen hat nicht allein voyeuristische Gründe, sondern weist zurück in eine Zeit, da man sich die Symptome für eine Schwangerschaft noch mühsam zusammenklauben musste, weil einzelne Anzeichen - allen voran das "stockende Geblüth" - für sich gesehen noch keinen verlässlichen Aufschluss gaben.

Schwangerschaft als Wellness-Gedanke

Dass Schwangerschaft und Geburt im Zeitalter der Voraufklärung eine derart hitzig besprochene und lauernd beobachtete Angelegenheit darstellten, hatte natürlich in vorderste Linie soziale Gründe: Wird die schwangere, gleichwohl ledige Dienstmagd geheiratet oder muss sie der "Luderey" anheimfallen? Die alten Dorfgemeinschaften kontrollierten, prozessierten und halfen bei Bedarf sogar, den Unglücksfall Schwangerschaft in eine sozialverträgliche Lösung überzuführen - die Historikerin Eva Labouvier beschreibt dies beispielreich in ihrer Kulturgeschichte der Geburt, "Andere Umstände". Wohlgemerkt: Es war dies die Zeit, als ein Kind im vierten Monat noch Frucht hieß, und nicht dank Ultraschall bereits Lea-Rosina.

Heute ist Schwangerschaft ein Teil des allgemeinen Wellness-Gedankens einerseits, der großen In-uns-Hineinhorcherei und der Ratschlagkultur andererseits. Zum Dritten ist sie eine Bewährungsprobe für das Geschlechtergefüge und selbstverständlich eine gesellschaftspolitische Größe. Das Riesentheater, das seit jeher um Schwangerschaft und Geburt gemacht wird, mag ein wenig verfeinert sein - kleiner geworden ist es allerdings nicht. Im Gegenteil: Wenn uns nicht eine natürliche Lust an der Großfamilie in die Schwangerschaft treibt, dann auf jeden Fall die Angst vor dem strengen Blick der Demoskopen, die vor der Seniorisierung unseres Landes warnen.

Sind Sie eine Pretty Mum?

Schönheitskuren für Pretty Mums

Wer eine Schwangerschaft in der Familie hat, bekommt aus allen nur denkbaren Richtungen allerlei Broschüren, Hinweise, Warnungen und Tipps - und plumpst unversehens in eine watteweiche Welt. In den Magazinen und Graviditäts-Kompassen unserer Zeit lebt die Schwangere mit ihrem Mann selbst in einer Art Fruchtblase - freigestellt von den Anforderungen des Alltags und ganz auf die Semiotik des dicken Bauchs konzentriert. Der Bauch muss möglichst häufig und an verschiedenen Schauplätzen hergezeigt werden - sei es durch die große stolze und blanke Präsentation in Sauna und Schwimmbad oder in der ausgeklügelten Inszenierung im möglichst enganliegenden Abendkleid.

Das ist wohl auch der Grund dafür, dass denjenigen Frauen wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird, die ihre Schwangerschaft als eine vorübergehende, teils angenehme, teils widrige Zeitspanne ansehen, welche sie möglichst ohne große Scherereien überstehen möchten. Ihnen wird von Experten- und Wohlmeinendenseite folgender Fragenkatalog vorgelegt: Sind Sie eine Pretty Mum?

Haben Sie, liebe Wöchnerin, eigentlich schon Ihren Sinn dafür entwickelt, wie Sie aus Ihrer biologisch determinierten Rolle eine neue Beauty-Ästhetik filtern können? Oder anders gefragt: Wenden Sie den richtigen Epilierer an, und sind Sie bei der Make-up- und Haarverlängerungsfrage endlich ein gutes Stück weitergekommen?

Eine Frau darf in der Schwangerschaft auf keinen Fall die Kulturtechniken weiblichen Repräsentierens aus der Hand geben - andernfalls siegt die Natur über ihre kosmetische Autonomie. Sie darf die Schwangerschaft nicht über sich ergehen lassen; sie muss etwas aus ihr machen, nein, noch besser: Sie muss sie "leben". Zur Vervollkommung ihres Gefühls wird ihr dringend angeraten, möglichst dreimal am Tag ein leichtes Fischgericht zu sich zu nehmen, alle halbe Stunde eine Bauchgymnastik zu machen und beim geringsten Anzeichen von Müdigkeit zu schlafen.

Job und Kind

Schwer zu sagen, an wen sich all diese wunderbaren Ratschläge richten. An Schwangere, die einem Beruf nachgehen, sicher nicht. Denn an deutschen Arbeitsplätzen wird der Bauch der Schwangeren zwar auch vermessen wie bei Lilly Kerssenberg. Nur dass hier in vielen Fällen das allgemeine Entzücken ausbleibt, denn das Mutterschutzprogramm ist für deutsche Führungskräfte immer noch eher eine geschäftsschädigende Einrichtung als eine zukunftsfördernde Errungenschaft.

Und es sieht auf keinen Fall vor, dass sich schwangere Kolleginnen mehrmals am Tag Kabeljau am Arbeitsplatz dünsten und sich bei Bedarf auf eine Bastmatte zurückziehen dürfen.

Moderne Männer sind mitschwanger

Ist es nicht eigenartig, wie wenig natürlich wir heute noch mit einem seit Jahrtausenden bekannten und erprobten Prozess Umgang pflegen? Schwangerschaft und Geburt sind die beiden biologischen Ereignisse, denen wir unsere schrillsten Festivals ausrichten. Vom Tod wollen wir nichts wissen - vom Tod nicht und auch nicht von seiner buckligen Verwandtschaft, der Krankheit oder der Behinderung. Deshalb gehört die Zustimmung zur Fruchtwasseruntersuchung und der Nackenfaltentest inzwischen genauso zum Reflex werdender Eltern, wie der Kaiserschnitt routiniert als Sicherheitsmaßnahme für bis zu 20 Prozent aller Geburten gebucht wird.

Schwangere, die aus ethischen Gründen bewusst auf jegliche Absicherungsmaßnahmen verzichten, gelten in gynäkologischen Praxen mittlerweile als Sonderlinge. Biologische Abläufe kontrollieren und gegebenenfalls beeinflussen zu wollen, sind inzwischen Teil unseres Verständnisses vom Leben geworden.

Gegen den Geburtsschmerz gibt es Vorbeuge-Therapien, gegen die postnatale Depression sowieso, und Paare, die auf natürlichem Weg keine Kinder bekommen, zahlen Unsummen für assistierte Reproduktionen. Seltsam eigentlich, dass eine Gesellschaft, die Kind und Geburt dermaßen fetischisiert, eine eher bescheidene Geburtenstatistik aufweist.

Männer und Schwangerschaftskuren

Auch den bedauerlichen Umstand, dass die Männer eigentlich mit der Entstehung eines Kindes nur ganz am Anfang zu tun haben, darf man übrigens nicht einfach so durchgehen lassen. Männer haben im Prinzip keinen Schimmer, was sie während der Schwangerschaft eigentlich genau machen sollen.

Also tun sie das, was die Frau tut: Sie nehmen an Schwangerschaftskursen teil, obwohl sie selbst nicht schwanger sind. Sie machen Atemübungen, obwohl sie nie ein Kind auf die Welt bringen müssen. All dies tun sie aus Furcht davor, mangelnder Solidarität und Liebe bezichtigt zu werden - und natürlich, weil ihnen die biologisch bedingte Ungerechtigkeit so bewusst wie peinlich ist, dass der Frau der ungleich beschwerlichere Part der Geburt zugefallen ist.

Es gibt Männer, deren Altruismus - oder ist es bereits eine Art geschlechtliche Mimikry? - sich sogar nach der geglückten Geburt des Kindes Raum und Entfaltung sucht. Manche besuchen mit ihren Frauen Rückbildungskurse, andere legen sich ihr Neugeborenes auf die nackte Brust - dieses sonderbare Verfahren, Bonding genannt, soll die emotionale Bindung zwischen Vater und Säugling stärken.

Oder hat das eher damit zu tun, dass manche Männer so etwas wie einen Plazentaneid hegen? Wie auch immer: Die mit Recht weltweit bestaunte Vervollkommnung der männlichen Schwangerschaftssolidarität leistete der 35-jährige Thomas Beatie aus Oregon. Er - transsexuell, therapiert und operiert, aber im Besitz passabler Eierstöcke - brachte eigenleibig zwei Kinder zur Welt.

Goethes schwierige Geburt

Wie schwer es Männern fallen kann, so gänzlich zur Untätigkeit verdammt zu sein und keinen nennenswerten Einfluss auf den Verlauf der Schwangerschaft nehmen zu können, zeigt ein kleiner Hinweis Goethes in "Dichtung und Wahrheit", wo er seine eigene Geburt als ziemlich kompliziert und beinahe missglückt schildert: "Durch Ungeschicklichkeit der Hebamme kam ich für tot auf die Welt." Goethes Großvater, Johann Wolfgang Textor, musste hilflos zusehen, wie sein Enkel blau und gequetscht ins Dasein flutschte. Textor habe, erzählt Goethe, nach der Geburt umgehend dafür gesorgt, dass die Hebammen und Geburtshelfer eine fundiertere Ausbildung erhalten, um so künftigen Generationen einen angenehmeren Lebenseintritt zu bescheren.

Schwangerschaft wird zur Bürgerpflicht

Eltern und Angehörige maßen in vergangenen Jahrhunderten der Geburt als Vorgang ohnehin eine größere Bedeutung zu als dem Geburtsprodukt selbst, dem Kind. Das hat natürlich mit der geringen Wahrscheinlichkeit zu tun gehabt, dass ein Kind das Säuglingsalter überlebte: "Der Auftritt des Kindes in der Familie und in der Gesellschaft war zu kurz und zu unbedeutend, als daß es sich ins Gedächtnis einprägen und besondere Aufmerksamkeit hätte beanspruchen können", schreibt der französische Sozialhistoriker Philippe Ariès in seiner "Geschichte der Kindheit".

Regelmäßig schwanger zu werden war für Mütter in der Vergangenheit gewissermaßen der Versuch, der Statistik ein Schnippchen zu schlagen - je mehr Kinder kamen, desto größer war die Chance, dass eines oder gar mehrere überlebten. Um das statistische Prinzip geht es immer noch, nur dass die Statistik heute andere Drohkulissen aufbaut. Die Schwangerschaft ist eine Bürgerpflicht geworden. Jede Geburt verschiebt einen Baustein in der Alterspyramide, jedes Kind sichert unsere Sozialsysteme, jedes Neugeborene nährt unsere Hoffnung, dass die Gesellschaftsordnung nach unseren Vorstellungen bestehen bleibt.

Perfekter Zeitpunkt für die Schwangerschaft

Obwohl die Zukunftaussichten ökonomisch und ökologisch eher trübe sind, hört man inzwischen kaum mehr den Satz "In diese Welt möchte ich kein Kind setzen" - in den frühen Achtzigern war er die Standardfloskel von Nachrüstungs- und Reproduktionsgegnern. Schwangerschaft und Geburt werden vielmehr als target agreement auf der länger gewordenen Lebensskala hin und hergeschoben: Passt es besser kurz nach dem Studium, gegen Ende des Volontariats oder geht es nicht auch noch mit Mitte vierzig, wenn die Kohle richtig stimmt?

Die Antwort ist: Ja, das geht alles, und wenn man es genau nimmt, ist die auf die lange Bank geschobene Schwangerschaft sogar die glorreichste Variante: Denn wer gut verdient, kriegt mehr Elterngeld und kann sich die teuren Krippenplätze leisten, vorausgesetzt, er bekommt einen und hat nicht versäumt, sein Kind am besten noch vor dem Eisprung in der Tagesstätte anzumelden.

Es bleibt eben doch reichlich vertrackt: Was man in der Schwangerschaft alles tun kann, um gut und schön über die neun Monate zu kommen, können alle erklären. Aber wie man als Pretty Mum beruflich weiterkommt, nachdem man erfolgreich die Demoskopie bedient hat, ist eines der großen Rätsel nach der Reproduktion.

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