Kleinwüchsige Mode-Bloggerin:Holidaypark namens Alltag

Lesezeit: 6 Min.

"Als kleinwüchsiger Mensch falle ich eh immer auf", sagt Ninia Binias, 36. Da könne sie sich doch ruhig auch bunt und verrückt kleiden. (Foto: Simona Bednarek)

Situationen, die andere als diskriminierend empfinden, bekämpft die kleinwüchsige Mode-Bloggerin Ninia Binias mit einer effektiven Waffe: Humor.

Von Thorsten Schmitz, Hannover

Der Frauenarzt nimmt das Ultraschallgerät vom Bauch der Mutter, dann sagt er diese Sätze über die Zukunft der noch ungeborenen Tochter: "Sie können froh sein, wenn sie Fahrrad fahren kann. An Ihrer Stelle hätte ich ansonsten nicht so viel Hoffnung." Er spricht dann noch von Sonderschule, aber so genau lasse sich das nicht einschätzen. Es ist das Jahr 1983. Am 12. August kommt Ninia Binias auf die Welt, mit viel zu großem Kopf, kleinem Körper und kurzen Gliedmaßen. Nur 38 Zentimeter misst sie. Ganze zwei Wochen darf Binias Mutter ihre Tochter nicht sehen. Dann die Diagnose: Kleinwuchs. Bis heute weiß man nicht, warum sie nur 1,40 Meter groß ist. Niemand in ihrer Familie ist kleinwüchsig. Selbst eine Humangenetikerin konnte keinen Defekt in ihren Genen finden.

Ein Freitagvormittag in Hannover. Mit Schwung und einem großen Lächeln im Gesicht öffnet Ninia Binias die Tür zu ihrer geräumigen Altbauwohnung im hippen Teil von Hannover-Linden. Sie trägt ein knalloranges T-Shirt, darauf ein Wort: "Underdog", dazu eine schwarz-weiß karierte Anzugshose und einen goldenen Nasenring. Später wird sie ihr Outfit mit weißen Sneakers kombinieren. Es ist der ruhigste Moment des Tages. Ihr dreijähriger Sohn Kasimir ist in der Kita, und ihr Mann unterrichtet eine Stunde Zugfahrt entfernt an einem Gymnasium.

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Die Szene mit der Ultraschalluntersuchung hat ihr die Mutter erzählt.

Wenn der Frauenarzt von damals die 36-Jährige jetzt nur sehen könnte, denkt man sich, was würde er wohl sagen? Sie schreibt, slammt, moderiert. Studiert hat sie Kunstgeschichte und Germanistik und "Fahrrad fahren kann ich auch", sagt Ninia Binias und lacht so ansteckend albern, dass man mitlachen muss.

"Sie können sich mit ihrer Tochter hier rein setzen" - Ihr Mann: "Welche Tochter?"

Dass sie so klein geblieben ist, erklärt sie sich so: "Eine Laune der Natur." Ninia Binias ist eine ganz normale Frau, die unübersichtlich viele Jobs hat, in denen sie aufgeht. Gerade ist ihr zweites Buch erschienen ("Von mir hat es das nicht!", Blaulicht-Verlag) mit saukomischen Alltagsgeschichten über aufdringliche Taxifahrer, ihren Mann, der zu ihrem Entsetzen einen Schrebergarten pachten möchte, über ihren Tattoourlaub in Berlin (seitdem hat sie eine Matrjoschkapuppe auf ihrem rechten Unterarm) und über ihren Sohn Kasimir, der vor drei Jahren normalwüchsig zur Welt gekommen ist. Sie schreibt darin auch über Menschen, die sie ungefragt fotografieren - und ihr das Gefühl vermitteln, "eine Attraktion in einem eigenen Holidaypark namens Alltag zu sein".

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Beim Vormittagskaffee in ihrem Wohnzimmer erzählt sie viel von den Blicken, wenn sie mit ihrem 40 Zentimeter größeren Mann unterwegs ist. Die Menschen versuchten einzuordnen, was sie da sehen. Irritieren sie die Blicke? Nicht mehr. Sie besitzt heute sogar die Fähigkeit, Situationen als "witzig" abzuspeichern, die andere Menschen vielleicht als diskriminierend empfinden würden. Wie jene etwa, als Binias und ihr Mann im Regionalzug saßen. Knallvoll war der, weshalb der Zugbegleiter sein Personalabteil aufschloss und zu Ninia Binias' Mann sagte: "Sie können sich mit ihrer Tochter hier rein setzen." Ihr Mann habe "ehrlich verwirrt" geantwortet: "Welche Tochter?"

Zu ihren vielen Jobs gehört auch das Poetry-Schreiben. Erfundene Geschichten über Liebeskummer und selbsterlebte aus dem Tattoostudio. Vor der Geburt von Kasimir stand Binias an 235 Tagen im Jahr republikweit auf Slam-Bühnen, inzwischen reist sie nicht mehr so viel. Sie schreibt auf ihrem Blog Ninialagrande.de und für Zeitungen und Magazine wie das Missy Magazin. Ihre Themen sind: Mode, Inklusion und ein scharfer Blick auf Ungleichbehandlungen von Frauen. Gerne macht sie sich auch lustig über die mutterfixierte Gesellschaft und beschreibt, wie sie immer wieder auf Tourneen entsetzt gefragt werde: "Und wer kümmert sich jetzt um Ihren Sohn?"

Ihre Behinderung hat sie in ihrer Fashion-Sendung auf RTL nie zum Thema gemacht

Sie ist auf Twitter, Instagram und Facebook, Mitgeschäftsführerin einer Popkulturagentur, die andere Unternehmen Tipps gibt, wie man Social Media sinnvoll einsetzen kann, und sie hat einen Podcast "Die kleine schwarze Chaospraxis" zusammen mit der Schauspielerin Denise M'Baye, in dem sie letztens verriet: "Ich wünschte, manche Menschen würden mir nicht immer solche Sätze an den Kopf hauen wie 'Sie ist kleinwüchsig, aber sie kann auch Poetry Slam'."

Binias kann als schlagfertige Moderatorin auch Sparkassenversammlungen auflockern und viel über Mode reden. Auf RTL hatte sie eine eigene Fashionsendung. Ihre Behinderung hat sie dort nie zum Thema gemacht - wovon die Eltern mancher kleinwüchsiger Kinder sehr angetan waren. "Die haben mir geschrieben, wie sehr es sie freut, eine Moderatorin wie mich zu sehen, die etwas moderiert, was nichts mit Behinderung zu tun hat." Ihren Kindern zeige das, dass sie alles machen könnten. Genau das ist ja auch ihr Lebensmotto: Alles ist möglich, egal, wie du aussiehst.

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Die Mode ist Binias' Steckenpferd. "Ich habe eigentlich jeden Stil mitgemacht", sagt sie, Gothic, Hippie, Grunge. "Mir war nichts zu krass." Sie sitzt auf dem olivgrünen Wohnzimmersofa, neben sich Kissen mit Frida-Kahlo-Gesichtern, rückt ihre goldene Brille zurecht und strahlt. "Als kleinwüchsiger Mensch", sagt sie, "falle ich eh immer auf und werde angestarrt." Da könne sie sich doch ruhig auch bunt und verrückt kleiden. "Warum soll ich als 1,40 Meter große Frau nicht genauso viel Spaß haben an Mode wie eine 1,80 Meter große Frau?" Seit Jahren hat sie einen Änderungsschneider, der ihr die Klamotten auf ihre Größe anpasst.

Zur inneren Unabhängigkeit und Unbeschwertheit hat ihr die Mutter verholfen. Die hat ihr eine Weisheit eingehämmert, die Ninia Binias bis heute begleitet, eine, an der die Blicke, die Sprüche, die Taktlosigkeiten abperlen. Ninia, hat die Mutter ihrer Tochter mit auf den Weg gegeben, "es gibt Große, Kleine, Dicke, Dünne, Schlaue und ganz, ganz viele Doofe". Zu den Doofen gehört auch die Frau letztens in der Bäckerei, die sich vorgedrängelt hatte. Als Binias sich mokierte, sagte die Frau: "Ich dachte, Sie wären ein Kind." Zu den Doofen gehören auch Passanten, die ihr hinterherrufen: "Ey, da kommt ein BOB." Was "blasen ohne bücken" heißt. Heute könne sie auf solche diskriminierenden Sprüche reagieren, sagt Binias. Wie? Mit Ironie. "Ist doch praktisch", ruft sie dann zurück.

In der Kita und in der Schule sei sie immer etwas Besonderes gewesen, erzählt Ninia Binias, allerdings besonders "auf so eine coole Art". Sie hatte Freundinnen, die sie beschützten, wenn ein Schüler sie in der Pause fragte, ey, wie groß bist du eigentlich. "Die haben dann gesagt: Das siehst du doch." Genauso "supernormal" seien ihre Eltern mit ihrer Kleinwüchsigkeit umgegangen. "Da hatte ich wahnsinnig viel Glück." Die schickten sie auch auf ganz normale Schulen, als Inklusion noch gar kein Thema war. Erzieher und Lehrer fragten die Eltern bloß, was Ninia brauche. So bekam sie einen Kleiderhaken, der weiter unten hing als die der anderen, und in der Grundschule hatte sie ein Höckerchen, wo sie ihre Beine drauflegen konnte.

Es gibt die Unverschämten in Binias' Alltag, und dann noch die Gehemmten, die Unsicheren, die Zaghaften. Wenn sie die Bühne betritt und ihr Publikum ist eher älter, spüre sie oft "eine komische Stimmung". Sie hört dann quasi die Gedanken ihrer Zuhörerinnen und Zuhörer, in denen sich alles um ihre Körpergröße dreht. Komische Stimmungen muss Binias sofort beseitigen. Sie stellt sich dann also vors Mikrofon, das immer viel zu hoch eingestellt ist, und schraubt es hinunter und sagt wie beiläufig: "Ich muss das Mikro erst mal behindertengerecht einstellen."

Ein Blick auf die Uhr, Ninia Binias muss sich sputen. Gleich trifft sie Autoren, die ein Krimiliteraturfestival vorbereiten. Sie soll es auf Social Media bewerben. Eilig schnappt sie sich Schlüssel und Handy, läuft die Treppen hinunter. Mittagessen möchte sie auch noch, bevor sie Kasimir von der Kita abholt. Auf dem Weg durch die Innenstadt begegnet sie Freunden und Bekannten, sie winkt und grüßt. Sie fühle sich wohl in Hannover. Noch wohler fühlt sie sich aber außerhalb Deutschlands, in den USA etwa. Als sie in New York war, kam eine Frau auf sie zu, "und ich dachte schon, oh Gott, was will die von mir". Die Frau aber wollte nur ein Lob loswerden: "I like your glasses!"

Das, sagt, Binias am Mittag in einem vietnamesischen Straßenlokal, wünsche sie sich am meisten: Dass ihre Größe kein Thema mehr ist. Dass die Menschen sich ihr gegenüber "ganz normal benehmen". So wie das Nachbarskind letztens.

Das hatte sie gefragt, warum Ninia Binias so klein ist. Es gebe eben große und kleine Menschen, erklärte Binias. Dem Mädchen reichte die Antwort völlig. Ein paar Wochen später begegnete Binias dem Mädchen und dessen Freundin auf der Straße. Die Freundin starrte Binias an und sagte: "Was ist das denn?" Und das Nachbarsmädchen, lacht Binias, gab die perfekte Erklärung: "Das ist eine sehr nette Frau."

© SZ vom 16.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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