Ladies & Gentlemen:Die neue Knautschzone

Ganz zerknittert: Auf den Laufstegen ging es zuletzt nicht sehr ordentlich zu. Ist der chaotische Faltenlook ein Abbild der aktuellen Lebenswirklichkeit?

Von Max Scharnigg und Julia Werner

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(Foto: picture alliance/Ik Aldama)

Für sie: Vom Leben zerdrückt

So, Sale ist vorbei, Winter aber noch lang, und die ersten Sommer-Looks hängen schon in den Läden. Dafür wird die Mode ja gerne kritisiert, aber man kann das auch als gute Überlebensstrategie sehen: Sich jetzt schon darüber den Kopf zu zerbrechen, was man beim noch weit entfernten, erträglichen Wetter tragen wird, das kann einen sehr lange durch graue Tage bringen. Fangen wir also an. Mit der allerbesten Nachricht, die Designer je für uns hatten: Mit dem verzweifelten Bügeln abends vorm Fernseher ist Schluss.

Ja, leicht zerknautschte Klamotten sind jetzt der letzte Schrei, es reicht also ab sofort, Hemden und Kleider einfach auf einem Bügel in den Wind zu hängen. Hört sich für bügelsüchtige Kontrollfreaks natürlich leichter an, als es ist. Deswegen haben viele Labels die Insignie des Sichgehenlassens vorsichtshalber einfach eingearbeitet. Wie zum Beispiel hier bei diesem traumhaften Look von Prada. Raf Simons, der Co-Designer, hat das nach der Show so kommentiert: "Die Falten sind Gesten des Fehlers - kreiert, um Stücke zu kopieren, die ein Leben hatten."

Das können wir nur unterschreiben: Ja, Frau hat ein Leben! Frau ist kurz vorm Nervenzusammenbruch, muss aber trotzdem schnell zum nächsten Termin! Wie schön, dass man diese Lebenslage jetzt einfach zur modischen Aussage uminterpretieren kann, es wird entspannend wirken. Nur Zähneputzen und Wäschewaschen nicht vergessen. Karottenbreiflecken auf dem T-Shirt wären zu progressiv. Bleibt die Hoffnung, dass die im nächsten Sommer auch noch von den Modepäpsten abgesegnet werden.

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(Foto: picture alliance/Ik Aldama)

Für ihn: Total knülle

Zu den klaren Verlierern dieses Jahrtausends gehört das Bügeleisen. Vor hundert Jahren waren akkurat gebügelte Leib- und Tischwäsche und eine extra plattierte Times noch Insignien der gehobenen Lebensart, wie man etwa bei "Downton Abbey" in vielen Szenen nachsehen kann. Im Alltag moderner Haushalte wird heute hingegen maximal noch Wert auf ein gebügeltes Hemd oder eine gebügelte Bluse gelegt, ein Auftrag, der wiederum gerne an eine Wäscherei outgesourct wird.

Für das noch von Oma betriebene, häusliche Dauerbügeln ist weder Zeit noch Platz, und wozu auch? Jeans und Pullover lassen sich doch direkt aus dem Wäschetrockner anziehen, Hosen werden knitterfrei oder Elasthan-satt gekauft oder mit einem Steamer halbwegs in Form gebracht. Und wer nimmt im Büro überhaupt noch Anstoß, wenn man mit Knitter- statt Bügelfalten kommt? Trägt man so, kann man im Zweifelsfall immer sagen, und spätestens in dieser Sommersaison deckt der Laufsteg diese Behauptung auch. Wobei die Knitterorgie, die Loewe etwa bei diesem Look aufbietet, schon wieder eine ganz eigene Kunstform ist.

Das Model wirkt ja wie professionell zerknüllt und ausgewrungen, und das passt eigentlich ganz gut zur aktuellen Stimmungslage in der westlichen Welt: Druck von allen Seiten, alles eigentlich komplett zermatscht. Eine glatt gebügelte Hemdbrust wäre in solchen Zeiten fast verdächtig. Wenn sich der Trend durchsetzt, ist die Frage demnächst also nicht, wie man die Falten aus dem T-Shirt kriegt, sondern wie man sie wieder richtig schön reinkriegt. Ein Bügeleisen könnte auch dabei helfen.

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