Mode:Kunst am Körper

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Kleidung ist schön, hat aber auch was zu sagen. Wer die Botschaft der Designer verstehen will, muss ihre Sprache beherrschen. Ein Decoder.

Sabine Resch

Mode, wie wir sie heute sehen, bedarf der Dechiffrierung, wie ein obskures Gemälde, das ein zeitgenössischer Künstler gemalt hat. Dazu braucht es einen zweiten Blick auf die Modelle, der nicht nur Stoff, Stil und Schnitttechnik ermittelt.

Wenn aus Mode Kunst wird, provoziert sie gerne - und Schönheit ist keine Glaubenssache, sondern Realität. (Foto: Foto: Oliviero Toscani für Benetton, Kampagne September 1991)

Die ersten Fragen lauten ja immer: Sitzt das Teil? Wie ist das verarbeitet? Stimmt das Material? Passt es zum Image des Labels? Kann man das auf der Straße anziehen? Und: Wie praktisch ist diese Hose eigentlich?

Dann aber muss schnell weitergefragt werden: Welche Botschaft will der Entwerfer vermitteln? Was sagt der so gekleidete Mensch über die Zeit aus? Welches Frauenbild kommt uns da auf dem Laufsteg entgegen (sexy oder karg), und was hat das zu bedeuten? Wieso jetzt dieses Trendthema? Wann gab es das schon mal und wieso jetzt wieder?

Nur wer sich diese Fragen stellt, knackt den Dresscode, indem er zu der obligatorischen Dreifaltigkeit, aus dem Mode ihre Daseinsberechtigung für Laien bezieht (verkäuflich sein, tragbar und funktionell) noch einen Mehrwert außerhalb von Kommerz addiert. Und hält am Ende das ganze Bild in Händen, das auch den intellektuellen Bezug enthält, wie andere Kulturdisziplinen ihn liefern. Denn ein Kleidungsstück ist viel mehr als nur die Summe seiner zusammengenähten Teile.

"Mode ist die Verbindungsstraße von der inneren zur äußeren Welt", schreibt die britische Theoretikerin Elizabeth Wilson. Der gedankliche Hintergrund der Mode lässt sich wie ein Soziogramm auflösen, wenn man beim Anblick der Kollektionen einen Trend erkennt und ihn ergründen kann. Trends fallen nicht vom Himmel, werden schlechtestenfalls künstlich erzeugt und bestenfalls als Mentalität einer Zeit aufgespürt.

Wer das nicht tut, hält Mode unermüdlich und ignorant für untragbar. Dann wird die Betrachtung gern zynisch, wie es als Spiegel von Zeitzeichen nachgerade ihre Pflicht ist. Beim Konsumenten löst der Mode-Zynismus jedoch Unbehagen und Entrüstung aus, wie an drei plakativen Beispielen der vergangenen zwanzig Jahre zu sehen ist.

Da ist die legendäre Modekampagne für Benetton aus den neunziger Jahren von Werbefotograf Oliviero Toscani. Er brach mit der heilen Welt der Mode und verpasste dem Label ein sozialkritisches Image. Reaktion: So verkauft man doch keine Pullover.

Da sind die zerschossenen Pullover von Comme des Garçons und Jean-Paul Gaultiers blutverschmierte Hemden, Burkas und Uniformen, mit denen man auf die Kriege der neunziger Jahre und den Terror vom 11. September 2001 Antikriegsmode folgen ließ.

Reaktion: Das ist zynisch, das darf Mode nicht.

Und da sind die umstrittenen Bilder des Modefotografen Steven Meisel in der italienischen Vogue vom September 2006, die zum ersten Mal Folter gegen Frauen thematisierte.

Reaktion: Das ist die "Glamourisierung von Folter".

Die öffentlichen Reaktionen auf diese Modeattacken haben ihren Mehrwert nicht erkannt. "Mode zeichnet Zeit", sagt der japanische Avantgardist Yohji Yamamoto. Er sieht Mode nicht nur als Spiegel des Zeitgeistes, sondern als Interpretin und Analytikerin. Natürlich ist es das große Paradoxon der Mode, gleichzeitig auf Kommerz und Kunst ausgerichtet zu sein.

Das spricht ihr keineswegs die gesellschaftspolitische Relevanz ab. Es ist vielmehr Zeichen ihrer Multidimensionalität, wie der Soziologe René König in seinem Grundsatzwerk "Menschheit auf dem Laufsteg" erklärt. Übrigens: Sobald ein Künstler Kleider macht, wird Mode als Kunstform gesehen.

Denn nicht nur Modedesigner machen Kunst. Es geht auch andersherum: Dass sich Künstler in die vermeintlichen Niederungen der Kleiderwelt begeben, hat sogar Tradition. Vor mehr als hundert Jahren, genau 1900, behauptete der belgische Jugendstilkünstler Henry van de Velde: "Die Reformierung der Frauenkleider ist das letzte Feld, das der Kunst noch zu erobern bleibt."

Und entwarf für seine Frau Maria ein Kleid ohne Schnürung und Korsett, ganz lose herunterhängend und bequem. Van de Velde war damit Modereformer, und seine Künstlerkleider sorgten funktional dafür, dass Frauen endlich wieder atmen konnten.

Ganz ohne Korsett entwickelte ganze fünfzehn Jahre später Mariano Fortuny, der "Leonardo da Vinci des Kunstgewerbes", aus einem einfachen, gefältelten Seidenschlauch die berühmten Delphos-Roben. Bis heute ist nicht geklärt, wie Fortuny diese extrem feinen Plissees hinbekommen hat. Der Japaner Issey Miyake schuf 70 Jahre später in direkter Anlehnung an Fortunys Kleiderkunst ähnliche Plisseegebilde aus High-Tech-Fasern.

Aber auch Männerkleidung wollten die Künstler reformieren. 1914 forderte Giacomo Balla, die düstere, träge Männerkleidung gehöre endlich abgeschafft. Der italienische Futurismus verlangte Fortschritt um jeden Preis in Technik und Geschwindigkeit. Balla entwarf dazu Anzüge mit dreieckigen Zacken in Rot, Orange und Gelb. Selbst für unsere schrille Gegenwart fiel das sehr bunt aus und setzte sich auch nicht durch.

Aber es war Kunst am Körper. In diesen Jahren waren Europas Künstler eifrig in Sachen Mode unterwegs: Die Ukrainerin Sonia Delaunay entwarf ebenfalls um 1915 ihre ersten Simultan-Kleider, Schals und Jacken. Die Simultan-Linie verband stückweise Farben wie Altrosa, Orange und Blau miteinander. Gehalten hat sich zwar nicht die Farbphilosophie auf Stoff, aber die Herstellungstechnik, wie wir sie von Patchworkdecken kennen.

Die Trennung von Kunst und Mode existierte für Andy Warhol erst gar nicht, er experimentierte gleich mit beiden Ebenen und stellte aus seinen Pop-Art Siebdrucken ganze Kleider her, die Materialien: Papier, Plastik und Kunstleder. Sein berühmtestes Kleid ist wohl das Tomatensuppen-Kleid aus Papier von 1966. Mehrmals erlebte die Pop-Art Neuauflagen dieses Factory-Styles bei Modedesignern wie Roy Halston, Jean-Charles de Castelbajac und Gianni Versace.

Erkennungszeichen von Joseph Beuys war seine Filzjacke. Die trug er aber nicht als Fashion-Statement in der Kunstwelt, sondern um persönliche Erlebnisse streng tiefenpsychologisch verarbeiten zu können. Wer seine Inszenierung mit Fett, Filzjacke und Stuhl verstehen will, muss wissen, dass Beuys nach einem Flugzeugabsturz von Bauern in Filzdecken gehüllt, seine Wunden mit Fett gepflegt wurden.

Eines der jüngsten Beispiele wendet sich nicht an ein Kleidungsstück an sich, sondern Kunst wurde gar Teil der Mode-PR. Die britische Künstlerin Vanessa Beecroft stellt Hunderte nackte Frauen in musealen Räumen aus und erwirkt Scham beim Betrachter. Für das hippe Modelabel Louis Vuitton, erklärter neuer Liebling der Kulturschaffenden, setzte sie voriges Jahr nackte Frauen in Dekorationskästen zwischen Taschen und Schuhe. Nun gut.

Das Problem: Mode versteht sich zwar selbst so, wird aber nicht in dieser Weise verstanden. Den ewigen Streit des Kulturbetriebes, ob nun Mode Kunst und eine Säule der Kultur sein kann oder nicht, hatte Theodor W. Adorno in seiner "Ästhetischen Theorie" verhandelt. Darin hebt der Modekritiker Kunst und Mode auf eine Ebene. Genauer gesagt die Art von Mode, die Adorno kannte: Haute Couture (die Prêt-à-porter steckte zu Adornos Lebzeiten in Kinderschuhen). Adorno vergleicht die Haute Couture mit einem Werk Picassos: "Trotz ihrer kommerziellen Manipulierbarkeit reicht Mode tief in Kunstwerke hinein.

Erfindungen wie die Picass'sche Lichtmalerei sind wie Transpositionen der Haute Couture, Kleider aus Stoffen lediglich mit Nadeln für einen Abend um den Körper zu drapieren, statt sie im herkömmlichen Sinn zu schneidern." Einen Vergleich mit Picasso scheute auch der Maler, Fotograf und Kostümbildner Cecil Beaton nicht, als er in den Fünfzigern Cristobal Balenciaga, als "Picasso der Haute Couture" bezeichnete. Allein das 20. Jahrhundert erzählt in unzähligen Beispielen von Mode als Kunstform.

Zu den ergiebigsten Symbiosen der Kunst- und Modewelt gehört bis heute das Kreativ-Paar Salvador Dalí und Elsa Schiaparelli. Der spanische Künstler und die italienische Modemacherin haben in den 30er /40er Jahren den Surrealimus in die Mode geholt, mit dem Schubladenkleid oder dem Schuhhut (den Dalís Frau Gala trug), als Mode-Readymade. Mode mit Humor und Hintersinn. Ähnlich surrealistisch arbeiteten Jean Paul Gaultier (mit Kleidern aus Brot) und Franco Moschino (mit einer Jacke aus Jeans-Hosen) vor. Die drei sind das ironische Gewissen der Mode.

Yves Saint Laurent betrieb mit seinen Kunst-Kleidern eine spezielle Form der Copy Art. Der französische Modekönig außer Dienst nutzte Piet Mondrians Bilder als Stoffmuster für Minikleider oder Vincent van Goghs Sonnenblumen als Paillettenstickerei für die Haute Couture. Post-Punk Vivienne Westwood ist bekannt für ihre Anleihen aus der Kostümgeschichte, was sie eindeutig der Postmoderne zuordnet, die mit Bezügen zum Historismus eine ähnliche Gegenwart herstellt wie Westwood mit ihren Rokoko-Kollektionen.

John Galliano pflegt für das Haus Dior eine Methode, die die Kunst Cross-Over nennt und wirft scheinbar wahllos zusammen, was nicht zusammengehört, wenn Models wie Asiatinnen geschminkt sind, Korsetts tragen wie damals im 19. Jahrhundert und dann mit aktuellem Styling modernisiert werden.

Ganz anders Rei Kawakubo und Martin Margiela, die endlich auch den Dekonstruktivismus in die Mode holten. Mit ausgefransten Säumen und Nähten nach außen, die inzwischen in der Massenmode angekommen sind, führen sie geltende Modegesetze ad absurdum.

Alexander McQueen schockiert gerne und ist damit der Expressionist unter den Modeschöpfern. Seine spektakulär betitelte Kollektion "highland rape" (Vergewaltigung im Hochland), ließ blutverschmierte Models in zerrissenen Spitzenkleidern über den Laufsteg wanken. Karl Lagerfeld nannte McQueen daher einen Seelenverwandten des Schock-Künstlers Damien Hirst. Eine Kunstgattung reicht McQueen aber nicht: Als Jackson Pollock der Mode hat er Action Painting in die Fashionwelt gebracht, als er bei einer Modenschau ein Abendkleid mit Farbe bespritzte, die aus einer Pistole, wie sie Autolackierer verwenden, direkt aufs Kleid strömte. Das gestaltete die Aktion zu Happening und experimenteller Mode zugleich.

Am konsequentesten erhebt nach wie vor der Zypriote Hussein Chalayan Mode zur Kunstform. Wie ein Konzept-Künstler bettet er seine Models in die Kleider und lässt diese sich dann auf der Bühne des Laufstegs auflösen.

Was diese Beispiele zu bedeuten haben, beschreibt die Potsdamer Modetheoretikerin Gertraud Lehnert: "Modern ist Mode schon deshalb, weil sie es schafft, Kleidung von ihrer nützlichen Funktion zu emanzipieren und sie mit der ästhetischen zu verknüpfen - und so, wie es die Avantgarde immer gefordert hat, Kunst ins Leben und Leben in Kunst zu bringen."

Was in der Kunst jedoch undenkbar wäre, einen Künstler und seine Ideen aus seiner Kunst auszulösen und unter demselben Namen jemand anderes weitermalen zu lassen, ist in der Mode längst Alltag, so zuletzt geschehen mit den Neo-Modernisten Helmut Lang und Jil Sander.

Prada-Chef Patrizio Bertelli, den man deswegen inzwischen auch schon den "Teufel von Prada" nennt, haben wir es zu verdanken, dass zwei der besten Kleidermacher unserer Zeit ruhiggestellt sind. Aber deren Verwalter, Raf Simons bei Jil Sander und Michael und Nicole Colovos bei Helmut Lang, stellen gerade unter Beweis, was in der Kunst ebenso undenkbar wäre: Dass die Erben der Idee fast puristischer und konzentrierter ans Werk gehen als ihre geistigen Ahnen. Das gibt doch Hoffnung. Und was bleibt der Mode? Sie braucht, einmal mehr, die Modeversteher an ihrer Seite.

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