Mode lässt sich jederzeit und überall kaufen, aber Stil ist durch und durch mysteriös. Man hat ihn oder hat ihn nicht, und während Modefotografien den Mythos Schönheit inszenieren, der ohne eine Entpersonalisierung des Modells nicht zu haben ist, gilt für den Stil: Persönlichkeit ist unbedingte Voraussetzung.
New York, August 2008: Ari Seth Cohen, Kunsthistoriker, suchte für seinen Blog Menschen mit Stil: Sollte er Mädchen mit langen, dünnen Beinen und Sonnenbrillen und junge Männer in Röhrenjeans und mit lässiger Wollmütze fotografieren? Wollte er glatte, junge Gesichter haben? Er erinnerte sich an seine Großmutter, an ihre Lebenslust und Intelligenz, und er beschloss, die Webseite der ältesten Generation in New York zu widmen.
Seither streift der 29-Jährige für seinen "Advanced Style Blog" durch die Straßen der Metropole und bittet Männer und Frauen jenseits der fünfzig um ein Foto, die ihre Körper besonders sorgfältig kleiden: beigefarbener Trenchcoat, roter Schal mit passenden Handschuhen, Hut aus Samt. Dazu goldene Kreolen, Strassbroschen in Blumenform oder ein Halstuch mit blau-weißem Paisley-Muster.
Cohens Modelle folgen nicht den Modetrends, sondern schöpfen aus dem Fundus, den sie zeit ihres Lebens zusammengetragen haben. Schlichte Eleganz ist bei weitem nicht das einzige Stildiktum.
Lynn Dell zum Beispiel, die in Cohens Blog den Titel "Gräfin des Glamours" hat, trägt schon mal eine weiße Pelzmütze und einen goldfarbenen Bolero oder inszeniert sich als Renaissance-Schönheit mit Kopfputz.
"Der Druck der Karriere liegt hinter diesen Menschen", erklärt Cohen, "und deshalb trauen sie sich, das anzuziehen, was ihnen gefällt. Das macht ihren Stil so spannend." Die älteste Dame, mit der Cohen zusammengearbeitet hat, ist 100 Jahre alt und macht mehrmals pro Woche Pilates.
"Mode wird von anderen vorgegeben", findet Ari Seth Cohen, "Leute mit Stil machen ihr eigenes Ding." Die Videoporträts, die er seinen Fotos an die Seite stellt, beweisen dann tatsächlich, dass Stil ein Indikator für Persönlichkeit ist. Man kann sich an ihnen gar nicht stattsehen und -hören, so expressiv und gleichzeitig reflektiert erzählen diese betagten Männer und Frauen aus ihrem Leben.
Cohens Blog aber ist mehr als eine hübsche Bilderschau, weil er eine gesellschaftspolitische Botschaft vermittelt. In einer Welt, die von einem, wie er sagt, "Jugendkult" besessen sei und in der alte Menschen vom Radar der Öffentlichkeit verschwinden, gäben gutgekleidete Senioren das Statement ab: Wir sind am Leben, wir lieben es und wir fordern Aufmerksamkeit.