Mit Texten auf Reisen:Gut gebucht

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Illustration: Dirk Schmidt (Foto: N/A)

Es ist wieder Literaturherbst. Die Autoren ziehen scharenweise durchs Land, um ihre Werke den mehr oder weniger geneigten Lesern ans Herz zu legen. Eine Selbstbeobachtung.

Von Hilmar Klute

Gegen 14 Uhr Ankunft in Uelzen. Hier beginnt die Lesereise durch Norddeutschland. Nun ist Lesereise zwar ein großes Wort für vier Vorträge in Buchhandlungen und Kulturzentren, aber, wie die Großmutter immer sagte: Das Kind will einen Namen haben, und Lesereise klingt nach frischem Unterwegssein und heiterem Kulturauftrag. Das Buch, das es vorzustellen gilt, ist eine Lebensbeschreibung des Dichters, Malers und Kabarettisten Joachim Ringelnatz, auf dem Buchumschlag ist der Meister im Matrosenanzug zu sehen, er zieht den Hut, er begrüßt sein Publikum - gibt es ein freundlicheres Maskottchen für eine solche Tour? Aus dem Buchkörper ragen rosafarbene und blaue Post-its wie gut gelaunte kleine Wimpel- sie markieren die Stellen, die ich lesen werde. Es ist also alles bestens vorbereitet. Und das ist entscheidend: Das Publikum wird sich nämlich nicht vorbereiten, wer das nicht weiß, kommt als Vortragsmensch in unbequemes Fahrwasser, weil er zu viel voraussetzt.

Wenn jemand ein Buch in einem größeren Verlag veröffentlicht, dann bemüht sich der Verlag, das Buch zu vermarkten - durch Anzeigen, Ansichtsexemplare und "Termine", also Leseabende vor möglichst vielen Freunden der Literatur und des Lesens. Es gibt Autoren, die es schön und wichtig finden, vor fremden Menschen aus ihren Büchern vorzulesen; weil sie dann sehen, wie das Geschriebene direkt auf die Kunden wirkt. Und natürlich, weil der Verlag es schön und wichtig findet, dass der Autor auch selbst etwas für den Verkauf seiner Bücher tut. Andere wiederum scheuen Lesereisen wie die Katze die Tropendusche; sie möchten bitte nur als Name existieren und um Himmels willen nicht angefasst werden. Hat schon mal jemand eine Lesung von Patrick Süskind oder von Botho Strauß besucht? Vielleicht fürchten diese Autoren ja auch, dass ihnen bei ihren Lesungen etwas geschieht; dass sie womöglich beschimpft oder gar angegriffen werden. Mario Vargas Llosa ist das im vergangenen Jahr passiert. Er las in Bogotá aus seinem Roman "Maytas Geschichte", als plötzlich ein Mann aufstand und vor den Augen des Autors und des Publikums ein Buch von Vargas Llosa zerriss. Und was tat der Nobelpreisträger? Schimpfen? Nach der Security kreischen? Nein, er feuerte den Buch-Exorzisten an: "Schreien Sie, wettern Sie, zerstören Sie meine Bücher! Danke, mein Herr, ich wünsche Ihnen ein langes Leben." Provokation und Literatur seien nämlich Geschwister. Toll, ein souveräner Autor. Und ein geschickter Schachspieler mit sicherem Gespür für den weiteren Verkauf seiner Bücher.

Mario Vargas Llosa blieb souverän, als ein Mann seine Lesung störte: "Schreien Sie, zerstören Sie meine Bücher!"

Uelzen hat einen schönen Bahnhof, weil er nach Plänen des Weltenumarmers Friedensreich Hundertwasser entworfen wurde. Keine Ecken, natürlich, alles zuckerstangenbunt wie im Schlaraffenland. Es kommt einem ein bisschen eigenartig vor, dass sich eine angenehm unaufgeregte Stadt wie Uelzen einen so extravaganten Bahnhof leistet. Wie ein niedersächsischer Biobauer, der im Tutu durch die Felder stöckelt. Aber das geht ja im Grunde nur die Uelzener was an.

Der Bus Nr. 1936 fährt nach Dannenberg, dort findet am Abend die erste Lesung statt. Wie freundlich der Fahrer ist: Er fragt die Leute an den Haltestellen, ob sie einsteigen möchten. In den großen Städten bekommt man auf die Frage, ob der Bus nach Friedenau oder Ramersdorf fährt, freundlichstenfalls ein bestätigendes Grunzen zu hören. Jetzt geht es durch kleine Dörfer, an einsamen Gehöften und endlosen Bruchwiesen vorbei nach Dannenberg: eine kleine Fachwerkstadt mit einem mittelgroßen Marktplatz. Schnell den Koffer ins Hotel bringen, dann durch die Stadt bummeln und möglichst verstohlen die schöne Auslage mit den Ringelnatz-Büchern anglotzen. Das Glotzen wird aber sofort von der freundlichen Buchhändlerin kassiert, die ihren Abendgast erkannt hat und hereinbittet. Sie wisse nicht, wie viele Leute kommen. Einmal hätte sie den Schriftsteller Hansjörg Schertenleib da gehabt, der habe ihr erzählt, es sei nur ein Zuhörer zu seiner Lesung gekommen. Und es sei trotzdem eine schöne Veranstaltung gewesen. Wo, bitte, kann man hier in Dannenberg noch schnell was essen?

Am Abend sitzen dann aber dreißig Leute auf den Stühlen und hören zu. Schön, wie konzentriert alle sind; und dann geschieht das Unerhörte, wenngleich das Wort unerhört eher unpassend ist, wenn von einem bimmelnden Handy die Rede ist. Der Mann, dem das Handy gehört, bekommt es nicht in den Griff; ich mache einen beschwichtigenden Witz, aber das Publikum wird immer ungehaltener. Einer sagt, ich kann auch drauftreten, dann ist es aus. Andere fordern den Mann auf hinauszugehen. Als er zurückkommt, blockiert sein Nachbar mit den Beinen den Zugang zu seinem Stuhl. Wenn einer noch einen Essay über Tabubrüche schreiben möchte, bitte sehr: Ein Handy, das in einer Lesung klingelt, ist bestimmt noch ein Tabubruch. Nach der Lesung ist zum Glück keine Rede mehr von dem Vorfall. Es gibt Rotwein und Sekt.

Am nächsten Morgen geht es weiter nach Pinneberg. Mit der Wendland-Bahn nach Lüneburg, dann mit dem Regio über Hamburg. Zeit genug, grundsätzliche Überlegungen zur Lesereise anzustellen. Wann hat das angefangen, dass Autoren sich an ein Tischchen setzen und aus ihren Büchern vorlesen? Aller Wahrscheinlichkeit nach im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der literarischen Salons und der gebildeten Gesellschaften; damals war der englische Großschriftsteller Charles Dickens einer der ersten, die durch halb Europa reisten, um ihre Bücher vorzustellen. In Amerika standen einmal sogar 5000 Zuhörer in einer kalten Winternacht Schlange, um Dickens zu sehen. Der Autor der Pickwickier erschloss sich auf diese Weise eine ungewöhnlich große Lesergemeinde, größer als die der Kollegen, die bloß ihre Bücher schrieben, an den Verleger schickten und dann in den Herrenclub gingen. Und Hans Christian Andersen, der reisefrohe Däne, ließ sich von den europäischen Adelshäusern einladen, um den Aristokraten die traurige Geschichte vom Mädchen mit den Schwefelhölzern zu erzählen.

Es gibt Autoren, die sich aus dem konventionellen Vorleseritual in multimediale Schaulesungen retten

Am späten Nachmittag Ankunft in Pinneberg; es regnet, das Hotel ist okay und die Drostei, der heutige Leseort, liegt eine Viertelstunde Fußweg entfernt. Auch in Pinneberg sind es wieder dreißig Leute; abends kurzes Biertrinken mit der Kulturbeauftragten, die viel von Piet Klocke erzählt, der sehr freundlich und ganz locker gewesen sei, sodass sie, die Kulturbeauftragte, resümierte: Das sind ganz normale Leute, die eben auch mal pullern gehen müssen. Gerne möchte man solche Leute auch mal kennenlernen.

Stell dir vor, du müsstest das jede Woche machen; stell dir vor, deine Tage enden regelmäßig in einer Kleinstadt-Buchhandlung, wo du vor zwei Dutzend Leuten Sachen vorlesen musst. Jeden Abend. So wie der freundliche Autorenkollege, der mit seinem Roman überraschenderweise auf der Spiegel-Bestseller-Liste gelandet ist und seitdem als eine Art Bob Dylan des gedruckten Worts auf einer Neverending Tour unterwegs ist. Es gibt Autoren, die sich aus dem konventionellen Vorleseritual in multimediale Schaulesungen retten. Frank Schätzing umrahmt seine Präsentationen mit wuchtigen Film- und Diaprojektionen, weil er hofft, sich dergestalt den Staub der sogenannten Wasserglas-Lesung vom Jackett fegen zu können. Anderen wiederum, wie dem Dichter John von Düffel, ist schon die bloße Präsenz als Autor eine Art naturwidrige Schauprangerei. Düffel schreibt, dass er eigentlich lieber zurück möchte "zu der entleibten Literaturvermittlung unserer medialen Welt" - zurück an den Schreibtisch, meint er. Man kann den soziophobischen Reflex auch kultivieren, keine Frage.

Am nächsten Morgen weiter nach Hanstedt, ein Ort, von dessen Existenz man bis vor Kurzem nichts wusste. Das Dorf liegt in der nördlichen Lüneburger Heide, man kommt nur mit dem Überlandbus dorthin. In der alten Küsterei warten fünfzig Menschen auf Neuigkeiten aus dem Leben des Joachim Ringelnatz. Ich erzähle ein bisschen von den erotischen Abgründen des Meisters und stelle seine anarchischen Kindergedichte vor, die seinerzeit wegen ihrer Stubenunreinheit kassiert wurden. Eine Frau im Publikum sagt, diese Unsittlichkeiten seien zu Recht verboten worden, und dass ihr Ringelnatz ziemlich unsympathisch sei. Neue Erfahrung: Nachgetragene moralische Einwände gegen einen modernen Klassiker. Es folgen: Beschwichtigungen, ein paar Bücher signieren, dann steht man irgendwann in der norddeutschen Dunkelheit, von der Rolf Dieter Brinkmann schreibt, sie sei "wirklich eine abendliche Dunkelheit - in dieser total ländlichen stillen Dunkelheit". Brinkmann hatte bei einer Veranstaltung dem Kritiker Marcel Reich-Ranicki entgegengebrüllt: "Wenn dieses Buch hier ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen." Es hat sich doch einiges verändert im Verhältnis der Autoren zur Öffentlichkeit. Vieles ist aber auch ein bisschen langweiliger geworden.

In den Achtzigerjahren besaßen manche Dichterlesungen noch den Zauber von Wallfahrten. Wenn der gebrechliche Erich Fried kam, waren die Säle rappelvoll, die Leute saßen auf den Stufen, um den kleinen Mann mit dem mächtigen Charakterkopf zu sehen, der seine Bücher in einer Plastiktüte mit sich führte und mit tiefer, mahnender Stimme raunte: "Wer will, dass die Welt bleibt wie sie ist, will nicht, dass sie bleibt." Einmal las er im Bochumer Schauspielhaus, und als die meisten Leute fort waren, erzählte er bei noch eingeschaltetem Mikro ganz offen von seiner Krebsoperation. Damals gingen wir alle bedröppelt nach Hause, heute würden wir die schreckliche Nachricht wegtwittern. Und wisst ihr noch? Allen Ginsberg 1995 in München - der große Beatpoet mit grauem Professorenbart, im schwarzen Hemd mit tomatenroter Krawatte, wie er mit einer komischen Drehleier sein berühmtes Gedicht "Don't smoke, don't smoke, don't smoke" sang? Und danach gingen alle zum Rauchen raus auf die Osterwaldstraße.

Hermann Hesse schreibt, wie er vor Wut über seine Zuhörer im Städtchen Querburg das Wasserglas umstieß

Letzte Station: Ahrensburg bei Hamburg. Ausverkauft, toll! Die Leute fragen kluge und weniger kluge Sachen. Als ich erzähle, dass die Nazis Ringelnatz Auftrittsverbot erteilt hätten, will eine ältere Frau wissen: Konnten die das denn so einfach? Wie gesagt, der Vorleser muss vorbereitet sein, das Publikum nicht.

Es ist so weit alles gut gegangen, besser jedenfalls als bei Hermann Hesse, der in seiner sehr komischen Geschichte "Autorenlesung" von seinem Auftritt im Städtchen Querburg erzählt, wo sie statt eines ernsthaften Schriftstellers einen Humoristen erwartet hatten, und jetzt kam Hesse mit seinen Hesse-Sachen daher: "Eine Reihe von grinsenden, fassungslosen, enttäuschten, zornigen Gesichtern sah mich an." Vor Wut stieß Hesse sein Wasserglas um: "Man lachte herzlich über diesen Scherz." Nebenbei: Wer sagt eigentlich immer, dass Hesse keinen Humor besessen habe? Allerdings soll er nicht sehr viele Autorenlesungen absolviert haben.

Fünf Uhr früh Bahnhof Ahrensburg; hier endet die Lesereise. Morgen geht es an die Fahrtkostenabrechnung; und während hinter Harburg der Tag herandämmert im ICE noch einmal auf Google Maps gucken und staunen, wie weitab Hanstedt liegt.

© SZ vom 10.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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