Misshandlung von Kindern:Gefahrenzone Familie

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Die deutschen Jugendämter nehmen immer mehr Minderjährige in Obhut, um sie vor akuter Gefährdung zu schützen - in jedem vierten Fall auf den eigenen Wunsch des Kindes.

Die Familie gilt den meisten von uns als Ort der Geborgenheit. Doch nicht alle Kinder haben das Glück, an so einem Ort aufzuwachsen. Immer mehr Minderjährige sind inmitten der eigenen vier Wände von körperlicher und seelischer Gewalt bedroht.

Immer mehr Kinder brauchen Schutz vor der eigenen Familie: Die Zahl der Minderjährigen, die vom Jugendamt in Obhut genommen werden, steigt. (Foto: ddp)

Wird ein Fall von Verwahrlosung, Missbrauch oder Gewalt gemeldet, schreitet in der Regel das Jugendamt ein. In besonderen Härtefällen, wenn eine akute Gefährdung des Kindes vorliegt, nehmen die Jugendämter Minderjährige auch in Obhut und bringen sie anderswo unter. Dies ist seit einigen Jahren immer häufiger der Fall: Seit 2004 ist die Zahl der Kinder, die vor ihren Familien in Sicherheit gebracht wurden, um fast ein Drittel gestiegen.

Allein im vergangenen Jahr wurden 33.700 Kinder und Jugendliche in einem Heim oder einer Pflegefamilie untergebracht, um sie vor Gewalt oder Verwahrlosung zu schützen. Das sind im Vergleich zu 2008 rund 1500 beziehungsweise 4,5 Prozent mehr, wie das Statistische Bundesamt in Wiesbaden berichtete. In etwa jedem vierten Fall wurden die Minderjährigen auf eigenen Wunsch aus ihrer Familie genommen.

Etwa jedes dritte Kind, das deutsche Jugendämter in Obhut genommen haben, ist zuvor von Zuhause, aus einer Pflegefamilie oder einem Heim geflohen, um seinen Problemen zu entkommen, das ist etwas weniger als in den Jahren zuvor. Stark zugenommen hat hingegen die Zahl ausländischer Jugendlicher, die ohne Begleitung nach Deutschland kamen. 2009 stieg die Zahl der unbegleitet nach Deutschland eingereisten Jugendlichen im Vergleich zum Vorjahr um 77 Prozent auf fast 2000. In den allermeisten Fällen (83 Prozent) handelte es sich um Jungen.

Wenn Gewalt und Gleichgültigkeit in Tod münden

Das Schicksal von Kindern wie Jessica, Kevin, Dennis und Talea beweist, dass das Jugendamt nicht immer rechtzeitig eingreifen kann. Obwohl diese Familien mitten unter uns leben, kam für diese und viele andere Kinder jede Hilfe zu spät. In Deutschland wurden im vergangen Jahr 152 Kinder gewaltsam getötet, 123 von ihnen waren jünger als sechs Jahre. Es gab 4081 Anzeigen wegen Misshandlung.

Noch eine traurige Statistik hat das zuständige Bundesamt veröffentlicht: Selbsttötung gehört bei Jugendlichen zu den häufigsten Todesursachen. Laut Statistischem Bundesamt nahmen sich nach den jüngsten Zahlen (2008) 9451 Menschen das Leben, 603 waren zehn bis 24 Jahre jung, mehr als drei Viertel von ihnen männlich. Bei den Suizidversuchen gibt es lediglich Schätzungen. Michael Witte von der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS) geht davon aus, dass es zehn Mal so viele Versuche gibt wie vollendete Selbstmorde. Das gelte vor allem für junge Menschen, bei denen der Anteil an Selbsttötungsversuchen besonders hoch sei.

"Suizide sind neben Verkehrsunfällen die häufigste Todesursache bei jungen Menschen", sagt Professor Gerd Lehmkuhl, Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Uniklinik Köln. Jede Nacht landeten verzweifelte Kinder und Jugendliche in der Notaufnahme, die sich umbringen wollten. "50 bis 60 sind es im Monat - vor 20 Jahren hatten wir drei, vier Fälle im Monat."

Für Professor Lehmkuhl liegt einer der Gründe im gesellschaftlichen Versagen: "Der Druck von außen ist größer geworden. Die Familien, die Eltern sind nicht mehr so gut im Auffangen ihrer Kinder. Die soziale Unterstützung ist geringer geworden, und die Anforderungen steigen, auch in der Schule." Die Zahl der Selbsttötungen und Suizidversuche sei alarmierend und belege, dass die Gesellschaft ein "Frühwarnsystem" etablieren müsse. "Alle, die mit Jugendlichen umgehen, müssen hingucken, sensibilisiert werden für frühe Anzeichen", fordert der Psychologe.

Eine Maßnahme, die auch jenen Kindern und Jugendlichen zugutekäme, die sich in ihrer eigenen Familie nicht sicher fühlen dürfen.

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