Mietpreise und Verdrängung:Was Gentrifizierung wirklich ist

Was ist Gentrifizierung?

Eine Stadt im Schaufenster.

(Foto: Illustration Jessy Asmus / SZ.de)
  • Verdrängen die Reichen die Armen aus den Städten? Bewohner von Metropolen wie Berlin, Hamburg oder München fürchten die Gentrifzierung.
  • Sie nachzuweisen ist schwer, Experten kritisieren, dass das Phänomen überhöht wird und sich tatsächlich nur in wenigen Straßen abspiele.
  • Das eigentliche Problem ist komplexer: Immer mehr Menschen ziehen in die Städte, Wohnungen werden knapp, Immobilien als Anlage attraktiver und die Mieten steigen - das trifft vor allem ärmere Menschen.

Von Hannah Beitzer

Was bedeutet eigentlich Gentrifizierung?

Gentrifizierung oder Gentrifikation beschreibt eine bestimmte Form der Veränderung in Stadtteilen: den Wechsel von einer Bewohnerschaft mit niedrigem Einkommen und Status zu einer statushöheren Bewohnerschaft mit mehr Einkommen. Den Begriff gentrification hat die britische Soziologin Ruth Glass in den 60er Jahren geprägt, um genau diesen Prozess im Londoner Stadtteil Islington zu beschreiben. Gentry ist das englische Wort für niederen Adel oder Landadel. Glass zog in ihren Forschungen Parallelen zu Entwicklungen des 18. Jahrhunderts, als eben jener niedere Adel vom Land in die Metropolen zog und mit der ärmeren Bevölkerung um Wohnraum konkurrierte. In den 70er und 80er Jahren beobachteten Forscher das Phänomen dann in verschiedenen Städten in Europa und den USA - zum Beispiel in den New Yorker Vierteln SoHo und dem ehemals heruntergekommenen Meatpacking District. Um die Jahrtausendwende wurde aus dem Forschungsgegenstand dann ein Thema, das auch in Deutschland die breite Öffentlichkeit interessierte.

Wie läuft Gentrifizierung ab?

Der typische Prozess lässt sich - vereinfacht - so beschreiben: Zunächst stehen in den betroffenen Stadtteilen, in denen hauptsächlich Menschen mit niedrigem Einkommen leben, Wohnungen oder alte Fabrikhallen leer. Dorthin ziehen Künstler und Studenten, weil die Mieten billig sind und der Stadtteil viel Raum für Kreativität und zum Experimentieren lässt. Es entstehen Kneipen und Cafés, Galerien und kleine Läden. In der Forschung heißen die ersten Zuzügler "Pioniere". Sie machen den Stadtteil mit ihrer Arbeit interessant und attraktiv für Menschen mit höherem Einkommen, die ersten "Gentrifier". Die sind bereit, höhere Mieten zu zahlen, einige von ihnen kaufen auch die alten Wohnungen zu Spottpreisen und renovieren sie. Es stehen immer weniger Wohnungen leer, die Mieten und Grundstückspreise steigen allmählich. Auch Investoren entdecken das Viertel, kaufen Wohnungen, renovieren und vermieten sie anschließend für teures Geld.

Die ursprünglichen Einwohner können sich die nun höheren Mieten nicht leisten. Häufig sind sie zum Umzug gezwungen, zum Beispiel, wenn ein Investor ein Haus komplett saniert und danach eine entsprechend höhere Summe verlangt. Und so kommt es eben zum oben beschriebenen Wechsel von der "statusniedrigen" zur "statushöheren" Bevölkerung. Entsprechend verändert sich auch das Umfeld. Wo früher die Urberliner Eckkneipe war, eröffnet kurz darauf vielleicht ein Technoclub und schließlich ein schickes Restaurant. Das stört häufig nicht nur die alte Bevölkerung, sondern auch die Pioniere.

Zur Veranschaulichung ziehen Forscher und Aktivisten häufig ein einfaches Phasenmodell heran. In der Wirklichkeit geschieht Gentrifizierung natürlich nicht streng nach Schema F. Ein relativ klassisches Beispiel dürften die Entwicklungen in einigen Vierteln des Berliner Stadtteils Prenzlauer Berg sein, in dem die Gentrifizierung inzwischen als abgeschlossen gilt. Aber es gibt, so erklärt es der Forscher Christian Diller von der Universität Gießen, auch andere Fälle, in denen zum Beispiel Pioniere und Gentrifizierer gleichzeitig kommen. Oder in denen zwar eine funktionale Aufwertung stattfindet (es also beispielsweise auf einmal viele Kneipen in einer Straße gibt), aber ohne dass sich an den Mieten und der Bewohnerschaft viel ändert.

Ist Gentrifizierung immer schlimm?

Zunächst einmal ist nichts dagegen einzuwenden, wenn in den Innenstädten Häuser renoviert werden und in einem Stadtteil Cafés und Läden entstehen. Diller warnt etwa davor, pauschal alle Veränderungen im eigenen Stadtteil abzulehnen: "Die Erfahrungen zeigen: Wenn sich in Stadtteilen über Jahre gar nichts verändert, dann entwickeln sie sich negativ." Er erinnert sich an Diskussionen in den 80er Jahren: "Damals war das oberste Ziel aller Stadtplaner: Suburbanisierung stoppen." Lange zogen vermögende Menschen nämlich eher an den Stadtrand, ins Einfamilienhaus mit Garten. In den Innenstädten blieben die vier "A", wie es die Gentrifizierungsforscherin Ilse Helbrecht von der Humboldt-Universität in Berlin im Gespräch mit der SZ ausdrückt: Arme, Alte, Arbeitslose und Ausländer.

Deswegen versuchten die Planer, die Innenstädte auch für andere Gesellschaftsschichten attraktiver zu machen. "Das hatte auch ökologische Gründe", sagt Diller. "Schließlich ist es sinnvoller, Flächen auszunutzen, die ohnehin schon bebaut sind, als immer neue zu bebauen." Und viele Pendler, die aus den Vororten in die Städte fahren, führen zu viel Verkehr. Dass nun also auch die Mittelschicht wieder in die Städte zieht, ist aus Planersicht eine positive Entwicklung - auch für die vier "A". "In den gentrifizierten Stadtteilen ist die soziale Mischung häufig besser als in anderen Vierteln", sagt Diller etwa mit Blick auf Berlin. Denn das eigentliche Problem seien die sozial schwierigen Randbezirke, in die keine Angehörigen der Mittelschicht zögen, sondern nur Menschen, die sich anderswo die Wohnungen nicht leisten können, sagt Diller.

Hinzu kommt: Das Ausmaß der Veränderung in einem Viertel wird häufig selektiv wahrgenommen. Der Stadtforscher Gerhard Hard weist darauf hin, dass die tatsächliche Gentrifizierung oft auf wenige Häuserblöcke und symbolträchtige Plätze begrenzt sei. Trotzdem stellt sich die Frage, woher die Menschen kommen, die in die von Diller erwähnten sozial schwierigen Viertel ziehen. Gentrifizierungskritiker sind der Überzeugung, dass sie aus der Innenstadt, wo sie sich die Mieten nicht mehr leisten können, dorthin ziehen - eindeutig nachweisbar ist das aber nicht. "Gentrifizierung meint im engeren Verständnis keineswegs jede Veränderung oder Aufwertung in städtischen Nachbarschaften, sondern explizit die durch immobilienwirtschaftliche oder politische Aufwertungsprogramme bewirkte Verdrängung ärmerer Haushalte aus den Stadtvierteln", betont der Soziologe Andrej Holm. Also: Nicht jede Baumaßnahme oder Spielplatzverschönerung ist problematisch, sondern gezielte Aufwertung und steigende Mieten, die letztlich dazu führen, dass arme Bewohner gezwungen sind, den Kiez zu verlassen.

Schlimmer als Gentrifizierung

Warum kocht die Debatte gerade jetzt hoch?

Wissenschaftler kritisieren, dass der Begriff Gentrifizierung inzwischen inflationär gebraucht wird. Trotzdem haben die Städte ein Problem, da stimmen alle Forscher überein. Und für dieses Problem sind drei Entwicklungen verantwortlich.

Erstens ziehen mehr und mehr Menschen in Metropolen wie München, Hamburg und Berlin, aber auch in kleinere Universitätsstädte. Darunter beileibe nicht nur Wohlsituierte, sondern auch Menschen mit wenig Geld. Die Nachfrage nach Wohnungen steigt dort, im Konkurrenzkampf tun sich arme Wohnungssuchende schwerer als reiche. Zweitens: "In Deutschland haben viele Städte in den vergangenen Jahren ihr Tafelsilber - Flächen und Wohnungen - sogar verkauft", sagt Stadtforscherin Ilse Helbrecht. Privatunternehmen investierten jedoch lieber in teure Appartements als in sozialen Wohnungsbau, weswegen vor allem billige Wohnungen fehlten. "Wir haben in Deutschland in Bezug auf die Versorgung mit preisgünstigem innerstädtischem Wohnraum ein selbstgemachtes und ernsthaftes Problem", sagt etwa Stadtforscher Diller. Drittens wurden seit Ausbruch der Finanzkrise Immobilien als Geldanlage attraktiver, die Zinsen fielen, die Kaufpreise stiegen. Alle drei Entwicklungen zusammen lassen die Mieten in den betroffenen Städten steigen - und zwar nicht nur in Vierteln, die unter Gentrifizierungsverdacht stehen, sondern überall.

Was kann man dagegen tun?

Neuestes Instrument gegen steigende Mieten ist die Mietpreisbremse. Seit 1. Juni können die Bundesländer in "angespannten Wohnungsmärkten" die Mietsteigerungen bei Neuvermietungen auf maximal zehn Prozent über der ortsüblichen Vergleichsmiete begrenzen. Bisher gilt die Mietpreisbremse allerdings nur in Berlin, Hamburg will im Juli folgen. Kritiker bemängeln, dass es zu viele Ausnahmen gibt. Die Mietpreisbremse gilt nicht bei Neubauten und nach einer "umfassenden Renovierung". Und Vermieter, die bereits eine Miete über der örtlichen Vergleichsmiete verlangen, müssen diese auch bei Neuvermietungen nicht senken.

Die Mietpreisbremse ist nicht das einzige Instrument. In Städten wie Hamburg, Berlin und München gilt zum Beispiel in bestimmten Gebieten ein Umwandlungsverbot von Miet- in Eigentumswohnungen. Beide Initiativen lindern zwar die Auswirkungen der Wohnungsnot, aber nicht unbedingt den Mangel an Wohnraum selbst. Da hilft nur der Bau von neuen Wohnungen vor allem für die unteren Gehaltsklassen. "Das muss nicht unbedingt die Stadt machen, Stiftungen und Genossenschaften können das auch", sagt Expertin Helbrecht. Nur bei Investoren, die auf den größtmöglichen Gewinn aus sind, wird es schwierig.

Wie lässt sich Gentrifizierung nachweisen?

Forscher versuchen, sich dem Phänomen der Gentrifizierung anhand verschiedener Fragen anzunähern: Gibt es in einem Stadtteil eine bauliche Aufwertung? Werden also viele Häuser saniert, Plätze verschönert? Ziehen viele neue Leute in ein Viertel und andere von dort weg? Gibt es plötzlich viele neue Kneipen, Cafés oder wird aus dem Kiosk ein Bioladen? Und bezogen auf die Miet- und Einwohnerstruktur: Wie entwickeln sich die Mieten? Wie verändert sich das Verhältnis von Miet- zu Eigentumswohnungen? Steigt oder sinkt der Anteil von Menschen, die staatliche Transferleistungen empfangen? Wie viele Menschen leben im Durchschnitt in einem Haushalt? Jeder dieser Aspekte kann auf Gentrifizierung hinweisen - aber für sich genommen auch andere Gründe haben.

Das wichtigste Kriterium in der politischen Debatte ist: Findet Verdrängung statt, müssen arme Menschen ihre Wohnungen für wohlhabende räumen? Stadtforscher Diller sagt dazu: "Verdrängung ist unheimlich schwer nachzuweisen." Ein Umzug könne aus vielen Gründen erfolgen, weswegen die Zahl der Wegzüge aus einem Stadtteil kein Beleg für Verdrängung sei. Und häufig setzt die Gentrifizierung schließlich dort an, wo es vorher leere Flächen und Gebäude gibt. Es wird also zunächst niemand vertrieben, sondern neu gebaut. Es werden allerdings immer wieder spektakuläre Fälle von Menschen bekannt, die sich die Miete nicht mehr leisten können. Doch es sei keineswegs empirisch belegt, dass das in gentrifizierten Stadtteilen häufiger vorkomme als in anderen, sagt Diller. Das Hauptproblem sei, dass potenziell verdrängte Mieter nur schwer zu fassen seien. Das alles bedeutet nicht, dass es keine Verdrängung gibt. Nur ihr letztgültiger Nachweis sei eben schwierig, sagt Diller.

Das bestätigt auch der Stadtforscher Jürgen Friedrichs, der bereits 1986 für die erste deutsche Gentrifizierungsstudie mitverantwortlich war. Sein jüngstes Projekt zeigt diese Schwierigkeit in aller Deutlichkeit. In den Jahren 2010 bis 2015 hat er gemeinsam mit Kollegen 1009 Wohnungen in den Kölner Stadtteilen Deutz und Mülheim beobachtet und ihre Bewohner befragt. 804 Wohnungen sind im Verlauf der Studie im Panel geblieben, aus ihnen sind insgesamt 120 Menschen ausgezogen. 60 von ihnen konnten die Forscher an ihren neuen Wohnorten auftreiben, 30 antworteten auf die Fragebögen, die die Wissenschaftler ihnen schickten. Und die meisten dieser 30 hatten andere Gründe als hohe Mieten für ihren Umzug. Eindeutige Schlussfolgerungen geben diese Ergebnisse nicht her. "Wir vermuten, dass Leute eher höhere Mieten zahlen und sich eher aus ihrem Lebensstandard verdrängen lassen," sagt Friedrichs. Das heißt: Bevor sie tatsächlich ihre Wohnung verlassen, verzichten sie lieber auf den Urlaub oder sparen bei Einkäufen.

Veranstaltungshinweis:
SZ-Forum

Das Thema Gentrifizierung bewegt die Münchner wie kaum ein anderes. Am 24. Juni 2015 lädt die Süddeutsche Zeitung zu einem SZ-Forum unter dem Titel "Unbezahlbar schön. Und wo bleiben die Münchner?" ein. Bei der Podiumsdiskussion soll es um explodierende Mieten, die Macht der Investoren und die Rolle der Politik gehen - um Ängste der Münchner, aber auch um Ideen, die Mut machen.

Wer diskutiert? Matthias Lilienthal, designierter Intendant der Münchner Kammerspiele; Elisabeth Merk, Stadtbaurätin; Josef Schmid (CSU), Bürgermeister Stadt München; Jürgen Schorn, Gesellschafter Bauwerk Capital; Christian Stupka, Vorstand Wogeno und Gima; Moderation: Tom Soyer und Thomas Kronewiter, Süddeutsche Zeitung

Wann und wo? 24. Juni 2015, 19 Uhr im Freiheiz, Rainer-Werner-Fassbinder-Platz 1, München. Der Eintritt ist frei.

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