Messie-Syndrom:Chaos im Kopf

Nichts als Müllberge, Dreck, Krempel? Dieses Bild von Messies ist zu einseitig. Unter den gehorteten Bergen an Unrat liegen oft auch die Gefühle verschüttet.

Viktoria Weichselgartner

Alles ist blitzblank. Kein Staubkörnchen liegt auf dem Tisch, vom Boden könnte man essen, die perfekte Ordnung - so scheint es zumindest. Susanne L. (Name von der Redaktion geändert) ist Herrin über dieses Haus. Doch sie sieht die Ordnung nicht. Der Dachboden sei nicht aufgeräumt. Und im Keller sehe es noch viel schlimmer aus. Deswegen könne man hier auch niemanden reinlassen. Dass Gäste im Normalfall weder Keller noch Dachboden zu Gesicht bekommen, hat in ihren Gedanken keinen Platz. Den besetzen schon die unaufgeräumten Schränke. Wenn jemand die Schränke aufmacht, würde sie vor Scham im Boden versinken. Deswegen darf auch keiner das Haus betreten.

Messie, istock

Schränke werden vollgestopft, bis nichts mehr reingeht. Etwas wegwerfen kommt für Messies nicht in Frage.

(Foto: Foto: istock)

Welcher Gast reißt schon die Schränke der Gastgeberin auf und überprüft sie auf ihre Ordnung? Aber diese Logik zieht bei Susanne nicht. Sie steckt fest in ihrem gedanklichen Konstrukt aus irrealen Ängsten. So oft man auch versichert, wie ordentlich alles sei, Susanne schämt sich, wertet sich selbst ab.

Susanne ist ein Messie. Das Symptom wurde nach dem englischen Wort "mess" (Unordnung, Chaos) benannt. Das hat oft wenig mit den bekannten Bildern von total vermüllten Wohnungen zu tun. Die Betroffenen haben das Chaos im Kopf: Messies sind Menschen, die große Probleme damit haben, räumliche und zeitliche Strukturen zu organisieren. "Wann das Messie-Syndrom beginnt, lässt sich schwer sagen. Die minimale Definition von einem Messie kann man nur an dem subjektiven Gefühl des Betroffenen messen, der langsam ein internes Gefühl der Überforderung wahrnimmt", sagt Gisela Steins, Professorin für allgemeine Psychologie und Sozialpsychologie, die sich seit Jahren mit dem Thema beschäftigt und das Buch "Das Messie-Phänomen" dazu verfasst hat.

Handlungsblockade in der eigenen Wohnung

Das Messie-Dasein beginnt oft damit, dass man Dinge nicht zu Ende führen kann. Der Messie verzettelt sich, räumt nach dem Frühstück das Geschirr nicht ab, später bleibt auch noch der Teller vom Mittagessen bis zum Abendbrot stehen. Er tut alles andere, nur nicht aufräumen.

"Messies denken zwar die ganze Zeit daran, noch aufzuräumen, aber sie können die Gedanken nicht in die Tat umsetzen. Das endet dann in einer Stresssituation, die in einer totalen Handlungsblockade mündet. Meiner Meinung nach ist das Messie-Dasein eine Krankheit", erklärt Marianne Bönigk-Schulz, einst selbst betroffen und heute im Förderverein zur Erforschung des Messie-Syndroms.

Bis zum 30. Lebensjahr gibt es immer wieder chaotische Lebensphasen. Ein Teenager, der sein Zimmer nicht aufräumt, ist also noch lange kein Messie. Aber ist der Entwicklungsprozess zum Erwachsenwerden abgeschlossen, sollte der Mensch zu gezieltem und gewohnheitsmäßigem Handeln fähig sein. Bei Messies ist diese Funktion gestört.

Weiter: Wie sich die Wissenschaft das Messie-Syndrom erklärt...

Chaos im Kopf

In der Wissenschaft kursieren verschiedene Theorien über die Ursachen des Phänomens. Manche Psychologen gehen davon aus, dass die Blockaden durch traumatische Erlebnisse in der Kindheit hervorgerufen werden. Im neurophysiologischen Ansatz hingegen spricht man davon, dass Aktionen im Gehirn nicht richtig ablaufen.

"Es gibt keine übergreifende Erklärung für dieses Syndrom. Das Messie-Syndrom ist als Krankheit nicht anerkannt. Es gibt auch kein einheitliches Verhaltensmuster, die Gruppe der sogenannten Messies ist sehr heterogen", erklärt Gisela Steins. "Bei vielen Messies finden sich mittlere bis schwere Depressionen und man kann schwer sagen, ob die Depression das Messie-Syndrom oder das Messie-Syndrom die Depression bedingt."

Das äußerliche Chaos kann sich in der ganzen Wohnung zeigen, aber auch nur an einigen Ecken oder hinter verschlossenen Schranktüren. Meist beschränkt sich die Unordnung auf den privaten Bereich, den Raum, in dem man wohnt und lebt. Nach außen können Menschen mit dem Messie-Syndrom sich aktiv geben. So kann jemand in der eigenen Wohnung das totale Chaos verbergen, aber seit Jahren ohne Probleme als Putzfrau arbeiten. Die Scham für das eigene Zuhause bleibt. Daher suchen Messies oft die Isolation. "Als wir damals unser Haus gesucht haben, war für mich am wichtigsten, dass es möglichst einsam lag", erinnert sich Bönigk-Schulz.

Die vermüllte Wohnung als Spiegel der Seele

Wenn man bei Susanne L. einen Blick hinter die Schränke wirft, entdeckt man dort alte Fernsehzeitschriften, Hunderte von Plastiktüten, abgegriffene Plüschtiere, Plastikflaschen, Unmengen an Tassen und Dosen. Haben bedeutet für Messies eine gewisse Sicherheit, die ihnen in anderen Bereichen oft fehlt. Innerlich sind sie unsicher, haben kein Selbstvertrauen. Die angehäuften Schätze werden zu einem Teil der Person. Wegschmeißen ist tabu. Wagt es ein Verwandter oder Bekannter doch einmal, eine Aufräum- und Ausmistaktion zu starten, kann es sogar sein, dass der Messie zustimmt, aber seine Bereitschaft hält nicht lange an. Im Extremfall werden alle Kontakte zu Menschen abgebrochen, die gut gemeinte, aber verfehlte Hilfe anbieten.

Andrea hat das auch immer wieder bei ihrer Mutter versucht. Die alte Frau hortete in ihrer kleinen Wohnung Kleidung und abgepacktes Essen, turmhoch stapelte es sich bei ihr in der Wohnung. "Man weiß ja nie, wann man das brauchen kann." Die Mutter hatte nach zahlreichen Überzeugungsversuchen ihrer Tochter - und nachdem sie sich in der Wohnung nicht mehr bewegen konnte - auch eingesehen, dass sie etwas dagegen tun sollte. Aber alleine schaffte sie es nicht. Also hat Tochter Andrea mitgeholfen und ihrer Meinung nach unwichtige Dinge weggeworfen.

Zunächst war ihre Mutter noch darüber erleichtert, die Wohnung war plötzlich so frei. Doch dann kam das Misstrauen: Hatte die Tochter nicht vielleicht doch etwas Wichtiges weggeschmissen? Panik stieg auf, dass man doch alles hätte brauchen können. Als die Tochter ein paar Wochen später die Wohnung betritt, stapeln sich überall in Plastik verpackte Hemden. Der Drang, sich zuzustellen und das damit verbundene Sicherheitsgefühl hatten Überhand genommen - dafür hatte die Mutter auch geklaut, da sie sich von ihrer kleinen Rente das alles gar nicht hätte leisten können.

Frauen wie Männer sind vom Messie-Syndrom betroffen. "Die Menschen, die unsere Beratungsstelle aufsuchen, kommen aus allen Schichten. Auffällig ist, dass häufig Lehrer davon betroffen sind, wir haben hier aber auch Ärzte, Sozialpädagogen, Anwälte. Dabei sind diese Leute in ihrem äußeren Auftreten oft sehr kultiviert, sie achten auf ihr Äußeres", berichtet Bönigk-Schulz aus ihrer Erfahrung in der Selbsthilfegruppe. Eine vermüllte Wohnung sei nicht automatisch ein Erkennungsmerkmal für einen Messie, das könne auch bei Demenzkranken oder Suchtpatienten vorkommen. Die Blockade des Handelns in der eigenen Wohnung hingegen sei ein deutliches Zeichen für das Messie-Syndrom.

Weiter: Wie man Messies helfen kann...

Chaos im Kopf

Wege aus der gedanklichen Blockade

Für das Messie-Syndrom gibt es verschiedene Therapieansätze. "Eine Kombination aus Unterstützung der Angehörigen und einer kognitiven Verhaltenstherapie, in der über die Gründe und Ursachen gesprochen wird, in der aber auch Verhaltensformen festgelegt werden, kann gute Erfolge erzielen", meint Gisela Steins. "Auf keinen Fall darf dem Messie aber alles abgenommen werden. Das führt zu starken Abwehrreaktionen und er fällt wieder in sein altes Verhaltensschema zurück."

"Eine Therapie hat mir nach 27 Jahren Messie-Dasein geholfen. Ich konnte die Wohnung einfach nicht aufräumen, solange mein Mann zuhause war. Ich war total blockiert", sagt Bönigk-Schulz. "Es ist wichtig, mit der Therapie an der richtigen Stelle anzufangen: Nicht das Verhalten sollte im Vordergrund stehen, sondern die Einstellungen, die zu diesem Verhalten führen." Auch Selbsthilfegruppen können dazu einen wichtigen Beitrag leisten, wenn im Mittelpunkt das Gespräch über das emotionale Erleben der Betroffenen steht. Denn der Messie hat seine Gefühle gleich in eine der zig vakuumdichten Tupperwarendosen miteingepackt, die sich zuhause stapeln.

Die eigenen Gefühle und Empfindungen wecken, das ist der Weg aus dem Wirrwarr im Kopf. Das hat auch Markus geschafft. Der junge Mann war gedanklich verhaftet mit Dingen, die ihm in der Kindheit widerfahren waren. Er konnte sich einfach nicht entscheiden, ob er etwas wegschmeißen sollte oder nicht. Und so wuchsen ihm die Berge an Krempel in seiner Wohnung langsam über den Kopf.

Der Vater war sehr streng, die Anforderungen an den Jungen ambivalent. Mal wurde er für etwas gelobt, am nächsten Tag für genau die gleiche Tat bestraft. Statt das falsche Verhalten beim Vater zu sehen, grübelte der Mann auch noch im Erwachsenenalter über seine Fehler nach und suchte die Schuld bei sich. Er überlegte, den Beruf zu wechseln, die Stadt, das Land. Doch auch damit hätte sich an seinem inneren Erleben nichts geändert. In der Selbsthilfegruppe erkannte er die Notwendigkeit einer Auseinandersetzung mit dem übermächtigen Vater. Nachdem er seine Bedürfnisse ausgesprochen hatte, bekam er wieder ein Gefühl für sich selbst. Und damit kam auch die Kraft, auszumisten: seine Wohnung, sein Leben, seinen Kopf.

Zuverlässige Zahlen, wie viele Messies es in Deutschland gibt, existieren nicht. "Die Dunkelziffer ist sehr hoch. Aber dass es sich bei Messies nicht nur um vereinzelte Phänomene handelt, kann man an den Selbsthilfegruppen in jeder größeren Stadt sehen", sagt Steins. "Es gibt es zu wenig junge Wissenschaftler, die sich damit beschäftigen. Das Thema hat leider nach wie vor einen hohen 'Igitt-Faktor'."

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