"Die Atmung hielt bis 30 Minuten an. Bei 4 Minuten begann VP (die Versuchsperson) zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei 5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und 10 Minuten wurde die Atmung schneller, VP bewusstlos, von 11 Minuten bis 30 Minuten verlangsamte sich die Atmung bis 3 Atemzüge pro Minute, um dann ganz aufzuhören.
Zwischendurch trat stärkste Cyanose auf, außerdem Schaum vor dem Mund. In 5 minütlichen Abständen wurde EKG in 3 Abteilungen geschrieben. Nach Aussetzungen der Atmung wurde ununterbrochen EKG bis zum völligen Aussetzen der Herzaktion geschrieben. Anschließend, etwa 1 Stunde nach Aufhören der Atmung, Beginn der Sektion."
So beschreibt der Dachauer KZ-Arzt Sigmund Rascher, wie er einen "37jährigen Juden in gutem Allgemeinzustand" in einem seiner grausamen Experimente zu Tode quälte.
Bei Raschers Unterdruckversuchen ging es vorgeblich um die Frage, was Piloten von Militärflugzeugen erleiden, wenn sie in großer Höhe die Maschine verlassen müssen.
Zumeist wurde die Situation in Unterdruckkammern simuliert. 70 bis 80 der 200 auf diese Weise malträtierten Häftlinge starben sofort an den Folgen des Versuchs. Die anderen trugen bleibende Schäden davon.
Die Welt erfuhr erst durch die Nürnberger Ärzteprozesse 1946/47 vom Ausmaß der Versuche, die unter dem Deckmantel der Medizin im Dritten Reich stattgefunden hatten.
Vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof hatten sich 20 Ärzte und drei Nichtmediziner für die Tötungen und Menschenversuche in Konzentrationslagern, Krankenhäusern und Heilanstalten zu verantworten. Die Auswahl der Angeklagten gibt nicht den Umfang und die Vielfalt der Verbrechen wieder.
Manche Täter in Weiß hatten sich umgebracht, waren nicht aufzufinden oder entsprechendes Beweismaterial war noch nicht verfügbar. Auch Rascher war nicht dabei - er wurde unter unklaren Umständen vor Kriegsende erschossen. Am 25. Oktober 1946 wurde die Anklageschrift verlesen. Hauptanklagepunkte: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Prozess dauerte vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947.
"Es gibt nichts Bedrohlicheres, als wenn Ärzte Mörder werden", sagt Robert Jay Lifton, wenn er gefragt wird, warum die medizinischen Verbrechen noch verstörender wirken als andere Grausamkeiten während der NS-Zeit. "Es ist die Perversion des Heilens zum Töten."
Vergangenes Wochenende sprach Lifton auf dem Kongress "Medizin und Gewissen" in Nürnberg. Das Buch "The Nazi Doctors" des Harvard-Psychiaters, das 1986 erschien, war die erste gründliche Studie über psychische Anpassungen und Deformationen bei Tätern wie Opfern.
In Interviews erforschte Lifton, wie Ärzte ihre Teilnahme am Massenmord rationalisierten: "Nach dem Mord untersuchten sie die Organe. So hatten manche Mediziner das Gefühl, ihr Tun als Forschung legitimieren zu können."
"Ich hatte mir das vorher nie vorstellen können"
"Die Tätigkeit bei den Prozessen hat mich bis heute geprägt", sagt Arno Hamburger zum Auftakt des Kongresses. Er ist Jahrgang 1923 und nahm als Dolmetscher am Ärzteprozess teil. Heute ist er Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg.
"Ich hatte mir vorher nie vorstellen können, dass es Ärzte geben kann, die solche Versuche an Menschen durchführen können. Ich hatte mir vorher nie vorstellen können, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können wie diese Unmenschen - und dass sie es dann auch noch so dokumentieren können und kühl abwägen, welche Menschen zu Tode zu quälen sind."
Ähnlich brutal wie die Unterdruckversuche waren die Unterkühlungsexperimente. Die Opfer wurden bis zu drei Stunden - oder bis zu ihrem Tod - in Eiswasser getaucht, dort stranguliert oder anderweitig ihrer Sauerstoffzufuhr beraubt. Oder sie mussten nackt bei Minusgraden im Freien ausharren.
Bei den Überlebenden wurde anschließend untersucht, wie schnell sich ihr Körper wieder aufwärmte - manchmal mittels "animalischer Wärme". Das war die zynische Beschreibung der Ärzte, wenn nackte Lagerinsassinnen sich an die fast Toten anschmiegen mussten.
Berichterstattung behindert
Rascher drängte Heinrich Himmler, Reichsführer SS, am 17. Februar 1943, die Unterkühlungsexperimente zu beschleunigen, "damit die letzte Winterkälte noch genützt werden kann".
Auch bevor er untersuchen konnte, wie sich extreme Höhe auf den Organismus auswirkte, schrieb Rascher an Himmler: Während eines "ärztlichen Auswahlkurses, bei dem die Höhenflugforschung eine sehr große Rolle spielt - bedingt durch die etwas größere Gipfelhöhe der englischen Jagdflugzeuge -, wurde mit großem Bedauern erwähnt, dass leider noch keinerlei Versuche mit Menschenmaterial bei uns angestellt werden konnten, da die Versuche sehr gefährlich sind und sich freiwillig keiner dazu hergibt (...)
Die Versuche, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können, sind absolut wichtig für die Höhenflugforschung und lassen sich nicht, wie bisher versucht, an Affen durchführen, da der Affe vollständig andere Versuchsverhältnisse bietet."
Ein medizinischer Mitarbeiter Himmlers antwortete Rascher schnell: "Ich kann Ihnen mitteilen, dass Häftlinge für die Höhenflugforschung selbstverständlich gern zur Verfügung gestellt werden. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um Ihnen auch noch zu der Geburt Ihres Sohnes meine herzlichen Wünsche zu übermitteln."
Gezielt verletzt und vergiftet
Im Konzentrationslager Ravensbrück wurden Häftlinge verletzt, um das Medikament Sulfonamid zu testen. Anderen wurden eitrige Geschwüre zugefügt; manche mussten Kampfgase einatmen oder Meerwasser trinken.
Im KZ Buchenwald wurden Impfungen gegen Fleckfieber und Hepatitis getestet. Etwa ein Drittel der Lagerhäftlinge, die an diesen Versuchen teilnehmen mussten, starben daran. In Auschwitz wurden Kindern Brandwunden am ganzen Körper zugefügt, andere Häftlinge bekamen in Hungerversuchen noch weniger zu Essen als andere Lagerinsassen.
Gynäkologen erprobten in Auschwitz die Sterilisierung, indem sie Frauen Formalin in die Gebärmutter spritzten.
Josef Mengele, von Mai 1943 an verantwortlicher Arzt im Frauenlager von Auschwitz, unternahm neben etlichen anderen grausamen Menschenversuchen Infektionsexperimente mit Typhus an Zwillingen.
Für den Historiker Hans-Walter Schmuhl von der Universität Bielefeld ist "die gängige Interpretation falsch, dass die Mediziner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu naturwissenschaftlich waren, und aus diesem Grund Menschen zum Objekt ihrer Versuche machen konnten".
Diese Erklärung diene der Selbstentlastung des eigenen Berufsstandes; so würden sich die Ärzte zu Opfern der Umstände machen. Auch sei es zu einfach, die Taten der Mediziner als Spaltung ihrer Persönlichkeit zu deuten: "Nach der NS-Ideologie war Töten Bestandteil des Heilens. Die Ärzte glaubten, dass die Verwahrung der Unheilbaren die Heilung der Heilbaren verhinderte."
Eine biopolitische Entwicklungsdiktatur
Die Täter handelten nach dieser Lehre, so Schmuhl auf dem Nürnberger Kongress. "Die NS-Mediziner waren Idealisten und hatten eine gesellschaftliche Utopie. Es handelte sich um eine biopolitische Entwicklungsdiktatur mit dem Ziel der vollständigen Kontrolle über Leben, Leiden, Sterben, Zeugen und Gebären."
Alice Ricciardi von Platen, geboren 1910, war neben Alexander Mitscherlich und Fred Mielke in der dreiköpfigen deutschen Ärztekommission, die den Prozess beobachtet hat. "Sie haben gesunde Menschen im Namen der Volksgesundheit umgebracht", sagt Ricciardi von Platen. "Als wir darüber berichten wollten, wurden wir als Verräter und Nestbeschmutzer beschimpft."
Das Buch "Medizin ohne Menschlichkeit" über den Ärzteprozess, das 1948 mit einer Auflage von 10 000 Exemplaren herauskam, wurde zum Großteil von Ärzten aufgekauft und versteckt oder vernichtet.
Der Vernichtungszug gegen geistig Behinderte und der Mord an Gesunden, der in Nürnberg verhandelt wurde, begann nicht erst mit dem Krieg. Bereits 1933 bis 1939 kam es immer wieder zur Tötung von Menschen, die aus Sicht der nationalsozialistischen Ideologie "menschenunwertes Leben" darstellten. Nachdem schon vorher in "Tötungsanstalten" Menschen vergast worden waren, wurde im April 1940 der Massenmord an Kranken beschlossen.
Das inoffiziell als T4 bezeichnete Programm (nach seinem Verwaltungssitz in der Berliner Tiergartenstraße 4) hatte die planmäßige Ermordung Kranker zum Ziel. Hitler selbst hatte den Befehl für das nationalsozialistische Euthanasieprogramm gegeben.
In dem kurzen Schreiben, das er nachträglich auf den Tag des Kriegsbeginns, den 1. September 1939, zurückdatierte, gab er den Auftrag, "die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann".
Was das in der Praxis bedeutete, wurde bald deutlich. In den ersten Kriegsmonaten wurden Tausende Kranke im besetzten Polen ermordet. Von Herbst 1939 an nahm die NS-Tötungsmaschinerie ihren Lauf: Nach Begutachtung und Transport in die vier Tötungsanstalten Grafeneck, Sonnenstein, Brandenburg an der Havel und Hartheim nahe Linz, wurde systematisch gemordet.
Später kamen das hessische Hadamar und Bernburg an der Saale als Tötungsanstalten hinzu. In etlichen "Kinderfachabteilungen" wurden Stationen eingerichtet, die einzig dem Zweck dienten, geistig behinderte oder andere schwerkranke Kinder mit einer Überdosis Medikamente zu töten.
Im August 1941 wurde die Aktion T4 von Hitler zwar vordergründig beendet. Doch bis zu diesem Zeitpunkt waren bereits mindestens 70 000 Menschen aus vermeintlich medizinischen Gründen umgebracht worden. Mindestens 20 000 weitere Menschen fielen Mord und Menschenversuchen in den Konzentrationslagern zum Opfer. Laut anderen Schätzungen gab es fast 200 000 Todesopfer im Namen der NS-Medizin.
Im KZ Neuengamme nahe Hamburg wurden bis in die letzten Kriegstage Experimente an Kindern durchgeführt. Im November 1944 wurden 20 jüdische Kinder aus Auschwitz nach Neuengamme gebracht und mit Tuberkulose infiziert. Um das Verbrechen zu verbergen, ließ die SS die Kinder und ihre Betreuer kurz vor Kriegsende ermorden.
Leben in der ethischen Wüste
"Die meisten Ärzte hatten vorher nicht getötet, erst in der Nazi-Zeit erfolgte ihre Sozialisation zum Bösen", sagt Lifton. Von der Tochter eines NS-Arztes wurde er gefragt, ob er glaube, dass ein guter Mensch böse Dinge tun könne. "Ich denke schon", antwortete Lifton, "aber dann ist er kein guter Mensch mehr."
Lifton vermutet, dass die meisten Mediziner auf ihre Profession vertrauten. "Doch Arzt sein ist nicht genug. Das ist ein vergebliches Hoffen auf einen ethischen Schutzmantel durch den Beruf", sagt Lifton. "Der logische Schritt - Ärzte sind Heiler, wir sind Ärzte, also sind wir auch Heiler - stimmte nicht mehr."
Ein Ergebnis des Prozesses ist der "Nürnberg-Kodex". Er beschreibt die Kriterien für medizinische Versuche und fordert die aufgeklärte Einwilligung zu allen Studien und Tests. Der Oxford-Historiker Paul Weindling ist überzeugt, dass die Nürnberger Ärzteprozesse "Grundlage für eine neue Ethik" waren. Die Hospiz-Bewegung habe einen Aufschwung erlebt.
"Nach dem Leben in einer ethischen Wüste gab es im Anschluss an Nürnberg eine neue Ethik in der Nachkriegszeit." Häufig hatten diejenigen, die diese neue Ethik einforderten, unmittelbar nach dem Krieg Überlebende gepflegt.
"Es gibt einen Zusammenhang zwischen einer rein naturwissenschaftlich betriebenen Medizin und der Gefahr von Menschenversuchen", sagt Weindling im Gegensatz zu Schmuhl. Dank der Nürnberger Prozesse sei das bewusster geworden. "Statt einer rein naturwissenschaftlichen Medizin braucht es eine Medizin des Dialogs, eine Heilkunst des Ich und Du", fordert Weindling.
Auch Horst-Eberhard Richter, den mittlerweile 83-Jährigen Mitbegründer der Kongressreihe, beschäftigt die Haltung der Ärzte bis heute. "Irgendwann hat man mehr Angst, sich selbst zu verraten als von Autoritäten bestraft zu werden", sagt Richter.
Damit Mediziner sich den ihnen Anvertrauten nicht wieder auf so grausame Weise entfremden, empfiehlt er eine Medizin, die einer Heilkunde des Ich und Du nahekommt: "Nähe ist Verantwortung, und Verantwortung ist Nähe."