Menschenversuche:Die Perversion des Heilens

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Vor 60 Jahren, am 25. Oktober 1946, begannen die Nürnberger Ärzteprozesse gegen jene Kriegsverbrecher, die im Namen der Medizin mordeten und quälten. Erstmals erfuhr die Welt vom Ausmaß der Versuche, die im Dritten Reich stattgefunden hatten.

Werner Bartens

"Die Atmung hielt bis 30 Minuten an. Bei 4 Minuten begann VP (die Versuchsperson) zu schwitzen und mit dem Kopf zu wackeln. Bei 5 Minuten traten Krämpfe auf, zwischen 6 und 10 Minuten wurde die Atmung schneller, VP bewusstlos, von 11 Minuten bis 30 Minuten verlangsamte sich die Atmung bis 3 Atemzüge pro Minute, um dann ganz aufzuhören.

Menschenversuche: Unterkühlungsversuch im KZ Dachau.

Unterkühlungsversuch im KZ Dachau.

(Foto: Foto: AP)

Zwischendurch trat stärkste Cyanose auf, außerdem Schaum vor dem Mund. In 5 minütlichen Abständen wurde EKG in 3 Abteilungen geschrieben. Nach Aussetzungen der Atmung wurde ununterbrochen EKG bis zum völligen Aussetzen der Herzaktion geschrieben. Anschließend, etwa 1 Stunde nach Aufhören der Atmung, Beginn der Sektion."

So beschreibt der Dachauer KZ-Arzt Sigmund Rascher, wie er einen "37jährigen Juden in gutem Allgemeinzustand" in einem seiner grausamen Experimente zu Tode quälte.

Bei Raschers Unterdruckversuchen ging es vorgeblich um die Frage, was Piloten von Militärflugzeugen erleiden, wenn sie in großer Höhe die Maschine verlassen müssen.

Zumeist wurde die Situation in Unterdruckkammern simuliert. 70 bis 80 der 200 auf diese Weise malträtierten Häftlinge starben sofort an den Folgen des Versuchs. Die anderen trugen bleibende Schäden davon.

Die Welt erfuhr erst durch die Nürnberger Ärzteprozesse 1946/47 vom Ausmaß der Versuche, die unter dem Deckmantel der Medizin im Dritten Reich stattgefunden hatten.

Vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof hatten sich 20 Ärzte und drei Nichtmediziner für die Tötungen und Menschenversuche in Konzentrationslagern, Krankenhäusern und Heilanstalten zu verantworten. Die Auswahl der Angeklagten gibt nicht den Umfang und die Vielfalt der Verbrechen wieder.

Manche Täter in Weiß hatten sich umgebracht, waren nicht aufzufinden oder entsprechendes Beweismaterial war noch nicht verfügbar. Auch Rascher war nicht dabei - er wurde unter unklaren Umständen vor Kriegsende erschossen. Am 25. Oktober 1946 wurde die Anklageschrift verlesen. Hauptanklagepunkte: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Prozess dauerte vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947.

"Es gibt nichts Bedrohlicheres, als wenn Ärzte Mörder werden", sagt Robert Jay Lifton, wenn er gefragt wird, warum die medizinischen Verbrechen noch verstörender wirken als andere Grausamkeiten während der NS-Zeit. "Es ist die Perversion des Heilens zum Töten."

Vergangenes Wochenende sprach Lifton auf dem Kongress "Medizin und Gewissen" in Nürnberg. Das Buch "The Nazi Doctors" des Harvard-Psychiaters, das 1986 erschien, war die erste gründliche Studie über psychische Anpassungen und Deformationen bei Tätern wie Opfern.

In Interviews erforschte Lifton, wie Ärzte ihre Teilnahme am Massenmord rationalisierten: "Nach dem Mord untersuchten sie die Organe. So hatten manche Mediziner das Gefühl, ihr Tun als Forschung legitimieren zu können."

"Ich hatte mir das vorher nie vorstellen können"

"Die Tätigkeit bei den Prozessen hat mich bis heute geprägt", sagt Arno Hamburger zum Auftakt des Kongresses. Er ist Jahrgang 1923 und nahm als Dolmetscher am Ärzteprozess teil. Heute ist er Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde in Nürnberg.

"Ich hatte mir vorher nie vorstellen können, dass es Ärzte geben kann, die solche Versuche an Menschen durchführen können. Ich hatte mir vorher nie vorstellen können, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun können wie diese Unmenschen - und dass sie es dann auch noch so dokumentieren können und kühl abwägen, welche Menschen zu Tode zu quälen sind."

Ähnlich brutal wie die Unterdruckversuche waren die Unterkühlungsexperimente. Die Opfer wurden bis zu drei Stunden - oder bis zu ihrem Tod - in Eiswasser getaucht, dort stranguliert oder anderweitig ihrer Sauerstoffzufuhr beraubt. Oder sie mussten nackt bei Minusgraden im Freien ausharren.

Bei den Überlebenden wurde anschließend untersucht, wie schnell sich ihr Körper wieder aufwärmte - manchmal mittels "animalischer Wärme". Das war die zynische Beschreibung der Ärzte, wenn nackte Lagerinsassinnen sich an die fast Toten anschmiegen mussten.

Berichterstattung behindert

Rascher drängte Heinrich Himmler, Reichsführer SS, am 17. Februar 1943, die Unterkühlungsexperimente zu beschleunigen, "damit die letzte Winterkälte noch genützt werden kann".

Auch bevor er untersuchen konnte, wie sich extreme Höhe auf den Organismus auswirkte, schrieb Rascher an Himmler: Während eines "ärztlichen Auswahlkurses, bei dem die Höhenflugforschung eine sehr große Rolle spielt - bedingt durch die etwas größere Gipfelhöhe der englischen Jagdflugzeuge -, wurde mit großem Bedauern erwähnt, dass leider noch keinerlei Versuche mit Menschenmaterial bei uns angestellt werden konnten, da die Versuche sehr gefährlich sind und sich freiwillig keiner dazu hergibt (...)

Die Versuche, bei denen selbstverständlich die Versuchspersonen sterben können, sind absolut wichtig für die Höhenflugforschung und lassen sich nicht, wie bisher versucht, an Affen durchführen, da der Affe vollständig andere Versuchsverhältnisse bietet."

Ein medizinischer Mitarbeiter Himmlers antwortete Rascher schnell: "Ich kann Ihnen mitteilen, dass Häftlinge für die Höhenflugforschung selbstverständlich gern zur Verfügung gestellt werden. Ich möchte die Gelegenheit benutzen, um Ihnen auch noch zu der Geburt Ihres Sohnes meine herzlichen Wünsche zu übermitteln."

Gezielt verletzt und vergiftet

Im Konzentrationslager Ravensbrück wurden Häftlinge verletzt, um das Medikament Sulfonamid zu testen. Anderen wurden eitrige Geschwüre zugefügt; manche mussten Kampfgase einatmen oder Meerwasser trinken.

Im KZ Buchenwald wurden Impfungen gegen Fleckfieber und Hepatitis getestet. Etwa ein Drittel der Lagerhäftlinge, die an diesen Versuchen teilnehmen mussten, starben daran. In Auschwitz wurden Kindern Brandwunden am ganzen Körper zugefügt, andere Häftlinge bekamen in Hungerversuchen noch weniger zu Essen als andere Lagerinsassen.

Gynäkologen erprobten in Auschwitz die Sterilisierung, indem sie Frauen Formalin in die Gebärmutter spritzten.

Josef Mengele, von Mai 1943 an verantwortlicher Arzt im Frauenlager von Auschwitz, unternahm neben etlichen anderen grausamen Menschenversuchen Infektionsexperimente mit Typhus an Zwillingen.

Für den Historiker Hans-Walter Schmuhl von der Universität Bielefeld ist "die gängige Interpretation falsch, dass die Mediziner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu naturwissenschaftlich waren, und aus diesem Grund Menschen zum Objekt ihrer Versuche machen konnten".

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