Menschen und ihre Enthaltsamkeiten:Nicht zu fasten

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Harte Sache für Hedonisten: die Fastenzeit (Foto: Bastian Weltjen; Baweg / photocase.de)

Während der sechs Wochen vor Ostern teilt sich die Menschheit in zwei Lager - in Fastende und Nicht-Fastende. Möchte man meinen. Tatsächlich ist das nur die tiefste Verwerfungslinie. Eine Typologie der Fastenden.

Von Felicitas Kock, Sonja Salzburger, Violetta Simon und Lena Jakat

Der Religiöse

Mit einem Lächeln im Gesicht schüttelt er den Kopf, als ihm der Mitarbeiter in der Kantine ein Stück Fleisch auf den Teller legen will. Auch das Dessert lehnt der als passionierter Nascher bekannte Kollege ab. Seit wann sind Sie Vegetarier und auf Diät? Antwort: Er habe keineswegs vor, dem Fleisch für immer abzuschwören und wolle auch nicht abnehmen. Sein Verzicht habe einen anderen Grund: Die Fastenzeit.

Seit seiner Kindheit übt sich der ehemalige Ministrant in den 40 Wochentagen zwischen Fasching und Ostern im Verzicht. Sonntage sind von der Fastenzeit ausgenommen, da kann er es kulinarisch krachen lassen. Ansonsten gilt: kein Fleisch, keine Süßigkeiten und Alkohol schon gar nicht. Stattdessen Gottesdienstbesuche und Spenden für die Armen. Jesus ist sein großes Vorbild, der hat es 40 Tage und 40 Nächte ohne Nahrung in der Wüste ausgehalten.

Als kleiner Junge hat der religiöse Faster jede Woche zwei Mark von seinem Taschengeld in eine kleine Fastendose aus Pappe vom Bischöflichen Hilfswerk Misereor gesteckt und sie pflichtbewusst an Ostern in der Kirche abgeliefert, um Kindern aus Entwicklungsländern zu helfen. Heute informiert er sich schon in den Weihnachtsferien darüber, auf welches Spendenkonto er zu Ostern ein Viertel seines Monatsgehalts überweisen will. Das alles erzählt er nur auf Nachfrage, von seiner Großzügigkeit prahlen, würde der religiöse Faster nie. Warum auch? Er macht es ja nicht fürs Prestige, sondern für den lieben Gott, dem seiner Meinung nach ohnehin nichts entgeht.

Sonja Salzburger

Selbst nicht-religiösen Menschen bietet die christliche Religion bisweilen etwas sehr praktisches: Sie kann ausgezeichnet als spirituelle Verkleidung für etwas zutiefst Banales funktionieren. Für den Wunsch nach feierlicher Stimmung (Hochzeit), für die Lust am Konsum (Weihnachten) oder für den Kampf gegen das Körperfett (Fastenzeit). Dem körperbewussten Faster geht es nur vordergründig um Erleuchtung - und insgeheim ausschließlich darum, endlich die paar Pfund zuviel loszuwerden.

Statt die zusätzliche Zeit, die ihm der Verzicht auf Restaurantbesuche und die lustlos gehackten Karottensticks zum Abendessen schenken, zur Kontemplation und Einkehr zu nutzen, verbringt der figurbetonte Faster diese geschenkten Minuten mit: 1) ausziehen - auf die Waage stellen - anziehen. So eine Jeans kann das Ergebnis schließlich drastisch verfälschen! 2) Sit-ups und Crunches. Schließlich will sichergestellt sein, dass die Röllchen auch an der richtigen Stelle verschwinden. 3) Lektüre des gesamten Kochbuchregals. Intellektuelle Ersatzbefriedigung.

Wer Süßigkeiten oder Alkohol weglässt, ja, wer sogar für einige Zeit auf feste Nahrung verzichtet, hat in der Tat gute Chancen, hier oder da ein bisschen schmäler zu werden. Aber wehe, er wird darauf angesprochen: "Hey, hast du abgenommen? Bist du auf Diät?" In der Fastenzeit verwandelt sich die potenziell schamvolle Antwort ("Ja, ich mache eine Diät, weil ich sonst immer so zügellos bin") in süße Überlegenheit: "Nein, ich faste."

Lena Jakat

40 Tage sind eine lange Zeit. Und nicht jeder ist so diszipliniert wie Jesus. Das weiß der inkonsequent Fastende - und ahnt von Anfang an, dass er die Sache mit dem Verzicht nicht durchhalten wird. In einem Anfall von Größenwahn hat er sich gleich mehrere Tabus auferlegt: Adieu, Kohlehydrate! Adios, Alkohol und Zigaretten! Warum mit einzelnen Einschränkungen kleckern, wenn man sich im großen Stil selbst kasteien kann? In den ersten paar Stunden geht das gut. Der Fastende schwebt auf der süßen Wolke des Verzichts. Er fühlt sich stark, diszipliniert, als hätte er ein neues Leben begonnen. Bis es draußen dunkel wird und sich die Nacht wie ein Tarnumhang über die guten Vorsätze legt.

Der Mensch neigt abends eher zum Flunkern als morgens, hieß es kürzlich in einer Studie. Das dürfte auch aufs Selbst-Belügen zutreffen. Egal ob Kohlenhydrate, Alkohol oder Nikotin - je später die Stunde, umso größer ist die Gier. Wie ein ausgehungerter Tiger schleicht der schwache Mensch um den Kühlschrank. Wie ging noch das Lied von Westernhagen? "Nudelauflauf gegenüber bin ich willenlos", oder so ähnlich. Und während der disziplinierte Esser sich jetzt abwenden würde, beginnt der undisziplinierte, sich Ausreden zurechtzulegen. Heute war ein stressiger Tag. Morgen kann ich auch noch mit dem Fasten beginnen.

Ist eigentlich belegt, dass Jesus wirklich 40 Tage gefastet hat? Vielleicht waren es ja nur 39. Überhaupt: Reicht es nicht, auf Alkohol und Zigaretten zu verzichten? Ist die Liste lang genug, reißt der inkonsequent Fastende mit gezückter Gabel die Kühlschranktür auf. Selten hat kalter Nudelauflauf so gut geschmeckt. Durch Verzicht lernt man gutes Essen eben erst richtig zu schätzen.

Felicitas Kock

Hinsichtlich Disziplin ist dieser Typus das exakte Gegenteil des Inkonsequenten, dem sich dieser Fastende 40-fach überlegen fühlt, mindestens. Denn er fastet zugunsten eines höheren Guts - nein, nicht der Ehre Gottes wegen. Sondern zur Ehre des eigenen Körpers und des Geistes. Spätestens Tom Cruise zeigte, dass nicht nachvollziehbare Heil- und Mentalpraktiken neben einem gestählten Leib auch Ruhm, Reichtum und Erfolg (zumindest was den Job angeht) bringen können.

Und so rennen Top-Manager und alle, die ihnen nacheifern, einen Marathon nach dem anderen, meditieren täglich eine halbe Stunde - oder üben sich eben in Enthaltsamkeit.

Kaum lässt man das bisschen profane Essen weg, ist da so eine Konzentration! Dieser Fokus! Diese Klarheit! Und plötzlich fühlt sich der Geist gereinigt genug an, um das perpetuum mobile zu erfinden. Und ausreichend gestärkt, um eine 200-köpfige Belegschaft zu motivieren - tschakka! Oder, wenn's sein muss, zu entlassen.

Lena Jakat

Der Fasten-Hasser empfindet gute Vorsätze als persönlichen Angriff, er fühlt sich vom Prozess des Fastens geradezu beleidigt. Sobald er mitbekommt, dass jemand aus seinem Freundeskreis auf Alkohol, Fleisch, Süßes oder Zigaretten verzichtet, mutiert er zu einem Stein, der sich dem Fastenden so lange in den Weg legt, bis er darüber stolpert. Er ist ein Spielverderber, ein Demotivierer par excellence, er ist das Salz in der Wunde eines jeden Menschen, der versucht, das Richtige zu tun.

Ein Dialog mit einem Fasten-Hasser läuft ungefähr so: "Rot oder weiß?" - "Danke, für mich heute nur Wasser." - "Das glaub ich jetzt nicht, wie lange haben wir uns nicht gesehen, und da machst du ausgerechnet heute einen auf Spaßbremse?" - "Ich kann auch ohne Alkohol lustig sein" - "Prima, und ich kann auch ohne Spaß trinken. Bringen Sie mir trotzdem eine Flasche von dem Roten! Das kann ja heiter werden."

Während der Fastende an seinem Wasser nippt und tapfer an seinem Salat mit gebratenen Tofustreifen knabbert, beginnt der Fastenhasser mit seinem Drei-Stufen-Programm: verunsichern, entmutigen, zu Fall bringen. Ob er denn wirklich glaube, dass diese Fasterei irgendetwas bringe. Wo doch jeder wisse, wie das sei mit dem Jojo-Effekt. Mal abgesehen von den Mangelerscheinungen, das soll ja bis hin zum Muskelschwund und Knochenabbau gehen. Und, mit Verlaub, ob ihm schon jemand gesagt habe, dass man davon Mundgeruch bekomme?

Im Umgang mit einem Fasten-Hasser gibt es nur eine Lösung: meiden wie der Teufel das Weihwasser.

Violetta Simon

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