Man muss kein Gegner der Zeitumstellung sein, um sich über deren Abschaffung zu freuen. Dazu genügt es, dass man zu jener schweigenden Mehrheit gehört, die sich jedes Halbjahr aufs Neue fragt: Muss die Uhr nun vor oder zurückgestellt werden? Freilich weiß man nicht, auf welche Seite man sich mit seinem Wunsch nach der Abschaffung stellt. Ist es nun reaktionär, zurück zur "Greenwich Mean Zeit" zu wollen? Oder sind die Umstellungsgegner so etwas wie die Impfgegner des Bio-Rhythmus?
Auf jeden Fall steht man auf der Seite von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der verkündete, er werde sich für eine Abschaffung der Zeitumstellung stark machen.
Auslöser war eine Online-Umfrage, bei der auf den ersten Blick auffiel, dass mehr als 80 Prozent der Teilnehmer sich für eine Abschaffung aussprachen. Auf den zweiten Blick aber, dass von mehr als 500 Millionen Europäern nur 4,6 Millionen mitgemacht hatten. Und von denen wiederum waren offenbar alleine drei Millionen Deutsche.
Wenn nun also auf die Schnelle beschlossen wird, was vor allem die Deutschen wollen, könnte das nach hinten losgehen, wo der Rest des EU-Auslands doch ohnehin annimmt, dass Jean-Claude Juncker in Wahrheit die Bauchredner-Handpuppe von Angela Merkel sei. Europaweit gibt es die Zeitumstellung erst seit 1996, in Deutschland bereits seit 1980.
Zeit ist natürlich immer ein sensibles Thema, es gibt ja keinen Firmenchef, Politiker, Börsenmillionär oder halbwegs Prominenten, der auf die Frage, was der größte Luxus sei, nicht "Zeit" antwortet. Wer gesund ist und genug Geld hat, sorgt sich um seine Zeit und das, was man aus ihr machen kann ("Quality Time"). Zeit wird als Besitz begriffen, weswegen auch jedes Mal, wenn sie umgestellt wird, davon die Rede ist, es werde einem eine Stunde geschenkt, oder eben gestohlen.
Andererseits könnte man einwenden, dass es derzeit vielleicht größere Probleme in Europa gibt als einen verwirrten Bio-Rhythmus oder genervte Endkunden, die zwei Mal im Jahr nach der Gebrauchsanleitung ihrer Digital-Uhr wühlen müssen, um diese umzustellen. Erderhitzung, Ungleichheit, Wohnungsmangel - all das wären Themen, zu denen man sich durchaus auch mal Antworten von der Politik wünschen würde. Auch das Dubliner Übereinkommen würde ja eigentlich in den Zuständigkeitsbereich der EU-Kommission fallen. Aber, nun ja, dann halt die Zeitumstellung.
In der Sozialpsychologie kennt man den Begriff Verschiebung. Sehr grob ausgedrückt wird damit das Phänomen bezeichnet, dass man es vorzieht, sich mit einem lösbaren Problem zu beschäftigen, wenn man einem wirklich großen, komplexen Problem nicht Herr werden kann. Erderhitzung und Flüchtlingsverteilung gehören zu diesen riesigen Problemen, wegen derer man sich in den Wohlstandsvierteln lieber darüber streitet, ob der eigentlich nette Betreuer in der veganen Kita ein Wurstbrot während der Dienstzeit essen darf - oder ob er damit ein falsches Signal sendet? Am Freitagmittag stellte sich dann auch die Kanzlerin bei diesem kontroversen Thema hinter Juncker.
Immerhin handelt Juncker bei der Abschaffung der Zeitumstellung sehr entschlossen, was aber auch noch Probleme nach sich ziehen könnte. Denn ein Beschluss der Kommission kann zwar den Krümmungsgrad aller Gurken in der EU betreffen, ist aber nicht bindend in der Zeit-Frage. Jedes Land kann dann für sich beschließen, ob es die Sommer- oder die Winterzeit will. Es könnte also bald so sein, dass man zwar mit derselben Währung auf Mallorca bezahlt, im Sommerurlaub aber die Zeitzone wechseln muss. Wenn die EU-Kommission das nun entschlossen durchzieht, dürfte zumindest für die Deutschen die nächste Umstellung eine der letzten werden. Nur noch wenige Male die Uhren vor- oder zurückdrehen, das ist doch mal eine schöne Nachricht. Am 28. Oktober müssen sie in jedem Fall noch einmal vorgestellt werden. Oder war es zurück?