Süddeutsche Zeitung

Mehr Haltung:Geht doch

Erst kann der Mensch das Laufen kaum erwarten, dann fällt er in sich zusammen. Besuch eines Gehseminars.

Von Julia Rothhaas

Der Mensch, ein ewiger Schlamper. Nicht mal mehr gehen kann er richtig. Stattdessen schleppt er sich durch sein Leben, tritt auf der Stelle und verliert ständig den Boden unter den Füßen.

"Der menschliche Gang ist einer der unsichersten Fortbewegungsfortgänge, die es unter Lebewesen in der Natur gibt", schreibt die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA). Niemand sonst stolpert, schlurft und wankt so sehr wie der Mensch, kein Tier knickt so oft um, steigt daneben, rutscht aus. Schade, denn das mit dem Gehen können wir eigentlich kaum erwarten.

Schon im Mutterleib suchen Embryos vom fünften Monat an nach Bodenkontakt und beginnen mit den ersten Gehbewegungen. Doch dann, so scheint es, verlieren wir die Fähigkeit, die wir uns mühsam als Kleinkind erarbeitet haben: Oberkörper und Kopf hängen nach vorne, die Schultern sind eingefallen, die Knie fest durchgedrückt und Fäuste und Kiefer angespannt. Und statt den gesamten Fuß abzurollen, liegt der Schwerpunkt oft nur auf Ferse oder Ballen.

Warum tun wir uns so schwer mit dem Gehen und dackeln nur durch den Alltag?

Wie elementar das Gehen für den Menschen, aber auch für seinen Geist ist, wussten schon Aristoteles und seine Anhänger, Peripatetiker genannt. Die liefen gemeinsam in den Wandelhallen des Lykeions in Athen auf und ab, während der Philosoph dozierte. Vom Gehen überzeugt waren die Mönche in ihren Kreuzgängen ebenso wie die bourgeoisen Flaneure im 19. Jahrhundert. Zu den bekanntesten Anhängern des Spaziergangs gehören nicht nur Michel de Montaigne, Jean-Jacques Rousseau, Robert Walser und Peter Handke, sondern auch Thomas Bernhard, der wusste: "Gehen und Denken stehen in einem ununterbrochenen Vertrauensverhältnis zueinander." Der belgische Künstler Francis Alÿs machte gar das Gehen zu seinem künstlerischen Modus operandi, indem er etwa in Mexico-City so lange einen großen Eisblock vor sich herschob, bis er geschmolzen war, oder in Jerusalem im Gehen grüne Farbe auf den Boden fließen ließ.

Warum tun wir uns dann so schwer mit dem Gehen? Und lesen Bücher von Menschen, die den Jakobsweg oder den amerikanischen Kontinent ablaufen, während wir selbst nur durch den Alltag dackeln?

"Wir haben uns in den Kopf geflüchtet", sagt Andrea Latritsch-Karlbauer. "Dabei erzählt jeder Schritt etwas über uns." Die Kärntnerin beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit dem Thema Körperwahrnehmung und hat ein Buch über das Gehen geschrieben, das "Wer geht gewinnt" heißt. Sie ist der festen Überzeugung, dass unsere Haltung alles beeinflusst: unsere Persönlichkeit, unsere Gedanken, unser Selbstbewusstsein, aber auch, wie wir von anderen wahrgenommen werden.

"Aufgerichtet gehen bedeutet Urvertrauen haben", sagt sie. Und fügt sofort an, dass sie jetzt bitte nicht in die Esoterik-Ecke gestellt werden möchte. "Ich beschäftige mich einfach seit vielen Jahren mit Gesamtzusammenhängen und habe einen Blick für das Zusammenspiel aus Bewegung und Sein entwickelt. Das ist etwas total Erdiges." Als Schauspielerin hat sie selbst erlebt, wie man durch bestimmte Körperhaltungen in Rollen und damit auch in deren Persönlichkeit schlüpft. Aber auch was passiert, wenn man auf der Bühne verkrampft und so gar nichts erreicht.

400 Meter

legten die Bundesbürger durchschnittlich an einem typischen Wochentag im Jahr 2010 zu Fuß zurück. Fünf Jahre zuvor waren es 800 Meter, 1950 sogar noch zehn Kilometer.

Das, was Andrea Latritsch-Karlbauer als erdig bezeichnet, nennt die Neurobiologie "embodiment", also die Wechselwirkung zwischen Körper und Psyche. Studien haben gezeigt, dass Mimik und Körperhaltung beeinflussen, wie man sich fühlt. Sogar Moralvorstellungen und Eigenschaften sind eng damit verbunden. Das geht so weit, dass Menschen, die eine warme Tasse in der Hand halten, freundlicher zu ihren Mitmenschen sind, oder diejenigen, die auf einer Rolltreppe nach oben fahren, mehr Mitgefühl zeigen, als wenn sie in die andere Richtung unterwegs sind. Als Grund dafür gilt, dass das Gehirn Rückmeldungen vom Körper braucht, um die Welt überhaupt einordnen zu können.

Menschen sollen wieder mehr Bewusstsein für ihre eigene Haltung entwickeln. Daher bietet Andrea Latritsch-Karlbauer auch Seminare an. Früher hat sie ihre Teilnehmer beim Gehen gefilmt, aber nachdem die Leute mehr damit beschäftigt waren, sich auf ihre schlecht sitzende Hose oder den herausgestreckten Bauch im Video zu konzentrieren, änderte sie ihre Methodik. Heute lässt sie die Teilnehmer vor sich auf und ab spazieren.

Ohne nachzudenken soll man erst mal durch den Raum laufen. Da sehe sie sofort, wie jemand im Leben steht, erklärt sie. Jedes Körperteil, das oberhalb der Gürtellinie noch vor dem Fuß nach vorne drückt, bedeute zum Beispiel Stress. "Ah, zu wenig Stabilität in den Füßen, du traust dir wenig zu", sagt sie einer Teilnehmerin im Seminarraum bei Villach in Kärnten. "Und hier haben wir einen klassischen Juristen-Gang, die strecken immer den Hals nach vorne. Reine Abwehrhaltung."

Mit Humor versucht sie, ein Bewusstsein für die Schwächen der Menschen zu schaffen. Dafür karikiert sie das Auftreten ihrer Teilnehmer, in dem sie ihre Körperhaltung nachmacht: Da gibt es den "Kopf-in-den-Hals-Typ" mit hochgezogenen Schultern, der die Oberarme eng am Körper hält und sich am liebsten unsichtbar machen würde. Und den immer skeptischen, aber extrem unsicheren "schrägfüßigen Vorwärtsschieber", der meist auf nach außen gestellten Füßen steht und Kopf voran und mit verschränkten Armen vor dem Bauch unterwegs ist. Oder den "Skispringer kurz vor dem Absprung", der Perfektionist mit wenig Fersenhaftung, der sich im Gehen stark nach vorne beugt und nur einen Arm bewegt. Und, da ist sich Andrea Latritsch-Karlbauer sicher, stets nur das Nicht-Erledigte sehen will.

All diese Typen sollen schließlich auch die Teilnehmer leicht überzogen imitieren, damit sie spüren: Mit der Haltung ändert sich auch die Wahrnehmung. Stimmt, stark nach vorne geneigt, kann man sich plötzlich nicht mehr so gut bewegen. Und ja, die Stimme wird dünn, wenn man die Schultern hochzieht und mit dem Kopf im Hals versinkt, sie wirkt dann wie dahingehaucht. Und da ist natürlich der Fuß, das Fundament: "Die Initialzündung für den Gesichtsausdruck, die gesamte Körperhaltung, den Atem und die Stimme geht von unseren Füßen aus. Sie reagieren auf unsere Erziehung, Gedanken, Lebensgeschichte, unser Selbstbewusstsein und richten sich danach ein", sagt Andrea Latritsch-Karlbauer. Während der eine eher breitbeinig steht, hängt der nächste in den Fersen oder knickt einen Fuß nach innen. Manche rollen den Ballen ab, andere gehen wie auf Eis. "Ich konnte es lange nicht glauben, aber meine Beobachtungen haben gezeigt, dass nach außen gestellte Füße zwar eine scheinbare Sicherheit vermitteln, aber die Ausdrucksmöglichkeiten einschränken. Und Füße, die eher nach innen geneigt stehen, zeigen: Das Selbstvertrauen und die eigene Entscheidungsfähigkeit sind begrenzt."

Um den Körper wieder ins Gleichgewicht zu bekommen, gibt Andrea Latritsch-Karlbauer ihren Teilnehmern Übungen mit auf den Weg: mit den Füßen kreisen (entspannt den Körper), mit den Fersen aufstampfen (stärkt das innere Gleichgewicht), abwechselnd auf die Innen- und Außenkante der Füße wechseln (sorgt für ausgeglichenen Bodenkontakt) oder einfach mal in Zeitlupe gehen (baut Stress ab). Die berühmten drei Minuten während des Zähneputzens solle man dafür nutzen, sich mindestens einmal täglich neu auszurichten.

"Und lacht öfter!", ermuntert sie ihre Gruppen. "Die meisten glauben, dass man nur mit einem ernsten Gesicht zeigen kann, wie beschäftigt man ist. Leistung ist für uns nur dann etwas wert, wenn wir uns auch sehr angestrengt haben. Wenn wir das Gleiche mit Leichtigkeit angehen, sind wir davon überzeugt: Das wird sicher nichts. Ein riesiger Denkfehler!"

Der Mensch muss wieder lernen, mehr Haltung zu entwickeln - in vielerlei Hinsicht

Mit Körpersprache-Trainern wie Samy Molcho soll man sie aber bitte nicht verwechseln. "Die bewerten immer alles, und die Menschen müssen sich mühsam Haltungen antrainieren, wie sie zu sein haben - aber nicht, wie sie sind. Ich hingegen denke, dass ein Mensch dann erfolgreich ist, wenn er mit sich in Balance ist, und keine ihm fremde Rolle spielt." Nicht "ich muss", sondern "ich will".

Diejenigen, die zu einem der Seminare von Andrea Latritsch-Karlbauer kommen, interessieren sich für Körperarbeit oder buchen sie zur Vorbereitung auf ein Vorstellungsgespräch oder eine Gehaltsverhandlung. Zu ihr kommen aber auch Menschen, die unter Anspannung immer rot werden oder stottern. Seit einigen Jahren berät sie zudem Mobbing-Opfer. "Die richtige Körperhaltung ist das beste Mittel gegen Mobbing", sagt sie. "Wie ich dastehe, hat Einfluss auf mein Gegenüber. Wer zum Beispiel immer den Oberkörper im Becken versenkt und damit den Radius des Kopfes einschränkt, muss nur dem Falschen begegnen, der das als Aufforderung zum Mobbing sieht."

Der Mensch muss also wieder lernen, mehr Haltung zu entwickeln. Denn das können heute nur wenige von sich behaupten - in vielerlei Hinsicht. Schließlich bedeutet es dann auch, dass man zur Verantwortung gezogen werden kann. Da ist es leichter, beliebig zu sein.

Vom Gehen ist es natürlich auch nicht mehr weit bis zum Sitzen. Ein Rundgang durch deutsche Büros zeigt, wie viel Druck in den Körpern der Menschen dort steckt: zusammengebissene Zähne, zitternde Beine, das ständige an den Fingern Herumgeknubbel. Vielleicht sollten wir alle aufstehen und eine Runde gehen. Das macht ohnehin mehr Sinn, als sich gegenüber an einen Tisch zu setzen - gerade, wenn es mal nicht so gut läuft im Miteinander. Denn wer gemeinsam spaziert, läuft zumindest in eine Richtung.

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Quelle:
SZ vom 08.08.2015
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