Mehr als Babyblues:Und plötzlich ist das Gefühl weg

Sie hassen ihre Babys nicht, sie lieben sie aber auch nicht: Bei fast einem Fünftel aller Mütter löst die Geburt eine psychische Krise aus.

Claudia Fromme

Neun Monate lang hatte sie an dem Drehbuch für ihr neues Leben geschrieben. Jede Szene hatte Monika bis ins Detail festgelegt. Ihre Zukunft fühlte sich nach Frottee und zarter Haut an, sie roch nach Babymilch und Kamille. Sie sah sich mit anderen lächelnden Müttern glückliche Kinder schieben. Die perfekte Mutter aus der Windelwerbung.

Mehr als Babyblues: "Reiß dich zusammen, das ist doch nur Babyblues": Nicht immer werden die Depressionen von Müttern nach der Geburt ernst genommen.

"Reiß dich zusammen, das ist doch nur Babyblues": Nicht immer werden die Depressionen von Müttern nach der Geburt ernst genommen.

(Foto: Foto: Istockphoto)

Es muss zwei Monate nach der Geburt gewesen sein, da riss der Film. Monika, 41, hatte Angst vor jedem Tag, vor jeder Nacht. Sie schlief nicht mehr, fühlte sich völlig überfordert und einfach so, als hätte jemand es ausgeknipst, war das Gefühl für ihr Baby weg. Sie hasste Johanna nicht, aber sie liebte sie auch nicht - sie war ihr gleichgültig.

Wenn sie ihr Kind im Arm trug, sei das so gewesen, als wäre es "ein Stück Holz", sagt Monika. Sie stillte und wickelte es, aber sie schmuste nicht mehr mit ihm.

Dabei war Johanna ein Wunschkind, das zweite für die Anwaltsgehilfin aus einem Dorf nahe Heidelberg. Monika fand keine Ruhe, der Umzug ins neue Haus stand an, Tochter Louisa kam in die fünfte Klasse, Johanna schrie nur noch.

Irgendwann habe sie sich gefragt, ob sie diese Welt nicht besser verlassen sollte, mit Johanna. Eine Ärztin zog die Reißleine. Seit fünf Wochen ist Monika mit ihrer Tochter im Zentrum für Soziale Psychiatrie im hessischen Heppenheim.

Monika leidet an einer postpartalen Depression. Bis zu einem Jahr nach der Geburt kann die Depression auftauchen und von wenigen Wochen bis zu einem Jahr dauern. Zehn bis 20 Prozent aller Mütter trifft sie, wenige erleiden sie so schwer wie Monika.

Der extremste Verlauf ist die postpartale Psychose, sie trifft zwei von 1000 Müttern. "Reiß Dich zusammen, das ist doch nur der Babyblues", hören betroffene Frauen oft. Tatsächlich fallen 50 bis 80 Prozent aller Mütter in den ersten zehn Tagen nach der Geburt in ein Stimmungstief. Nach wenigen Tagen verschwindet der Babyblues aber wieder; unter Medizinern gilt er als relativ harmlos.

Monika sitzt mit Johanna in der Küche im Mutter-Kind-Haus der Heppenheimer Psychiatrie. Neben ihr: eine Zahnärztin, eine Sekretärin, eine Hausfrau, eine Altenpflegerin, eine Studentin. Einige haben ihr Baby in ein Bettchen in die andere Ecke des Raumes gelegt, manche vor sich auf den Tisch in eine Babywippe. Monika wiegt Johanna im Arm.

In der Therapie geht es darum, Distanzen zu überwinden - zum Kind, vor allem aber zu sich selbst. "Wenn die Mütter zur Ruhe gekommen sind und ihre Probleme in Angriff nehmen, kommt das Gefühl für das Baby automatisch wieder", sagt Hans-Peter Hartmann, der Ärztliche Direktor von Heppenheim. Um das Gefühl zu festigen, gibt es Anleitungen zur Babymassage und zum Verhalten in Problemsituationen, etwa, wenn das Baby schreit. Bindungstraining könnte man vielleicht dazu sagen.

Lange habe sie versucht, ihre Depression "wegzulächeln", sagt Monika. Selbst ihrem Mann habe sie lange nichts erzählt, Freunden gar nicht. "Jeder hätte mich für verrückt gehalten", sagt sie. Ein gesundes Baby, ein Mann mit gutem Job, ein neues Haus. Was will man mehr?

Zwei Wochen bevor sie nach Heppenheim kam, war Johannas Tauffeier. Monika lächelte tapfer durch, keiner der Gäste bemerkte etwas. Im englischsprachigen Raum wird die Wochenbettdepression auch smiling depression genannt. Die Lächeldepression.

Und plötzlich ist das Gefühl weg

Viele Frauen litten heimlich - und unnötig sagt Hans-Peter Hartmann. Die Heilungserfolge seien überaus gut, manche sprechen von fast 100 Prozent. Dennoch lassen sich nur ein bis sechs Prozent aller Betroffenen behandeln, meist aus Scham oder Unwissenheit.

Dabei sei eine Behandlung äußerst wichtig; längst sei nachgewiesen, dass eine Depression der Mutter auch dem Kind schaden kann. Viele würden durch die Bindungsstörung hyperaktiv, aggressiv oder überängstlich. Umso wichtiger sei es, Mütter frühzeitig zu therapieren - und die Kinder gleich mit. Auch die Väter gilt es einzubeziehen, immerhin leiden zehn Prozent von ihnen auch an postpartalen Depressionen.

Während in England seit 1948 Mütter mit Depressionen nach der Geburt samt ihrer Kinder therapiert werden, gibt es in Deutschland erst seit wenigen Jahren etwa 100 Mutter-Kind-Plätze, Heppenheim stellt elf davon. Das habe vor allem finanzielle Gründe, sagt Hartmann. Die Krankenkassen zahlen nur Müttern den meist acht Wochen dauernden Aufenthalt.

Es fehle die Lobby in Deutschland, viele Ärzte unterschätzten die Krankheit. Manchmal scheitere es auch einfach am Fachwissen, sagt Hartmann. Noch immer gebe es Hebammen und Frauenärzte, die postpartale Depressionen nicht einmal kennen.

Aus der Wartezimmerlektüre hätten sie davon erfahren können. Brooke Shields war der prominenteste Fall einer Mutter mit postpartalen Depressionen. Als die Krankheit der US-Schauspielerin 2003 bekannt wurde, lästerte ihr Kollege Tom Cruise in einer Talkshow, dass Shields sich nicht so gehen lassen solle. "Sie hätte lieber Vitamine nehmen und Sport treiben sollen, als zum Psychiater zu gehen", ätzte er und kritisierte sie dafür, dass sie Antidepressiva nahm.

Mit einem Brief an Cruise in der New York Times konterte Brooke Shields: "Das Beste an seinem Geschwafel ist, dass eine ernsthafte Krankheit nun hoffentlich die notwendige Aufmerksamkeit bekommt."

Die Auslöser für Depressionen nach der Geburt sind so vielfältig wie die Behandlungsmethoden. Schwere Verläufe werden oft medikamentös und stationär behandelt, manchen Frauen hilft eine ambulante Therapie, manche setzen auf homöopathische Mittel. Zu den Risikopersonen gehören Frauen, die schon einmal psychisch erkrankt waren; 30 Prozent aller Betroffenen haben solch eine Vorgeschichte. Neben der Hormonumstellung nach der Geburt kann zudem eine unglückliche Beziehung zum Partner, ein fehlendes soziales Umfeld oder Stress - etwa durch einen Umzug nach der Geburt - eine Depression begünstigen.

Die Psychologin Corinna Reck, Leiterin der Mutter-Kind-Einrichtung am Universitätsklinikum Heidelberg, sieht zudem Leistungsdruck als Risikofaktor. Zunehmend seien junge Frauen davon betroffen, die sehr karriereorientiert seien. Nach der Geburt sähen sie keinen Sinn in dem, was sie tun. Der Versuch, einem in Deutschland überhöhten Mutterideal gerecht zu werden, scheitere ebenso, wie weiter perfekt im Job zu sein. Erst recht, wenn es der Staat durch mangelnde Betreuungsplätze so schwer mache, Kinder und Beruf zu vereinbaren.

Auch traumatische Geburten können Auslöser sein. Das war bei Anke, 27, aus Karlsruhe so. Als die Herztöne ihres Sohnes bei der Geburt abfielen, wurde sie in Vollnarkose versetzt, Notkaiserschnitt. Als sie aufwachte, saß eine Schwester mit einem angezogenen Säugling neben ihr, überreichte ihr das Bündel und sagte feierlich: "Ihr Baby."

Es war, als hätte sie den Hauptpreis einer Tombola bekommen, sagt Anke. Ganz nett, mehr nicht. Es war nicht ihr Baby, es war ein Baby. Das Stillen empfand sie als Qual, ihren Sohn René als Störfaktor.

Acht Wochen ist das her, seitdem ist Anke in Heppenheim. Sie hat sich mit Monika angefreundet, und beide haben sich wieder mit ihren Babys angefreundet. Oder besser: Sie haben wieder ein Gefühl für sie bekommen. "Ein gutes Gefühl", sagt Monika. Dennoch habe sie Angst vor dem Tag der Entlassung.

Halt bieten Selbsthilfegruppen wie "Schatten und Licht". Fast jeden Tag erzählt eine Frau im Internetforum des Vereins ihre Geschichte.

Es sind Hebammen genauso wie Akademikerinnen oder Hausfrauen. Die Betreffzeilen zeigen, wie groß die Not ist: "Nur noch Tränen" steht da, "Wann hört das endlich auf?" oder "Totaler Leerlauf".

Ein Titel heißt: "Ich hasse mein Kind." Es sind nur wenige Fälle bekannt, in denen Mütter ihren Kindern tatsächlich etwas antun. "Viele Frauen aber kennen die Gedanken", sagt Sabine Surholt, Gründerin und Vorsitzende von "Schatten und Licht". Auch wenn sie es nie tun würden, erschrecke der Gedanke viele so sehr, dass sie sich keinem mitteilen würden.

Auf jeden Eintrag gibt es viele Antworten von Frauen, die das gleiche durchgemacht haben. Melanie Weimer, 33, aus Frankfurt, zum Beispiel. Sie moderiert oft die Internetchats der Mütter. Nach der Geburt ihres ersten Kindes vor fünf Jahren litt auch sie an Depressionen. Sie habe sich wahnsinnig unter Druck gesetzt, eine gute Mutter zu sein, sagt die Pädagogin. Völlig unvorbereitet sei sie da hineingeraten, auch ihre Hebamme habe die Depression nicht erkannt.

Eine Gesprächstherapie half ihr aus der Krise. Lange hatte sie Angst, ein zweites Kind zu bekommen. In 30 bis 50 Prozent aller Fälle bekommt die Mutter beim nächsten Kind wieder Depressionen. Bei Melanie Weimer blieben sie aus; sie hatte sich intensiv mit ihrer Therapeutin vorbereitet. Und sie hat sich beruflich neu orientiert: Heute ist sie selbst Geburtsvorbereiterin und in ihren Kursen haben postpartale Depressionen einen selbstverständlichen Platz.

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