Süddeutsche Zeitung

Medizin und Wahnsinn, Folge 158:Reflexe aus der Tiefe

Ein Forscher hat eine neue Reflexzone entdeckt - und zwar am Hintern. Der therapeutische Wert soll noch größer sein als bei der Ohr-Akupunktur.

Werner Bartens

Der Titel der Tagung klang vielversprechend. Und für die "Jerusalem International Conference of Integrative Medicine'' wurden noch Beiträge gesucht. Dort sollten "die wissenschaftlichen Prinzipien der modernen Medizin mit den ganzheitlichen Prinzipien der Alternativmedizin vereint" werden. Der renommierte britische Embryologe John McLachlan fühlte sich angesprochen, schrieb an die Organisatoren und schlug ihnen einen Vortrag vor. Ein willkommener Anlass für ihn, das erste Mal Jerusalem zu besuchen. Die Kontaktaufnahme verlief freundlich, der wissenschaftliche Beirat bat McLachlan, seine Präsentation in einem Abstract - einer Zusammenfassung, wie sie für Fachveröffentlichungen üblich ist - genauer vorzustellen.

Der Professor skizzierte sein Projekt gerne. In seinen Studien zur Embryonalentwicklung war McLachlan zu dem Schluss gekommen, dass es eine besonders empfindliche Reflexzone im menschlichen Körper gibt - und zwar am Hintern. Auf beiden Gesäßbacken sei der ganze Körper wie ein auf dem Kopf stehendes Männchen repräsentiert. McLachlan schickte eine schematische Abbildung der Homunkuli auf einem Frauen-Popo zur Erläuterung mit. Würden die Reflexpunkte stimuliert - etwa mit Nadeln wie bei der Akupunktur - ließe sich ein Energiefluss auslösen. Der therapeutische Wert sei noch größer als bei der Ohr-Akupunktur, behauptete McLachlan. Leichtes Saugen, wie es beim unblutigen Schröpfen der Fall sei, könne übrigens ähnliche Reize auslösen.

Das wissenschaftliche Programm-Komitee, dem nahezu zwei Dutzend promovierte Mediziner und andere Akademiker angehörten, war zufrieden und bot McLachlan an, auf der Tagung im Oktober 2010 einen 20-minütigen Vortrag zu halten. Der Wissenschaftler zögerte zunächst, schließlich lehnte er die Einladung ab. Halb amüsiert, halb enttäuscht. Vor wenigen Tagen machte er die Posse öffentlich.

McLachlan hatte alles erfunden. Zwar ist der britische Mediziner tatsächlich Embryologe, obwohl er mittlerweile einen Lehrstuhl für medizinische Ausbildung an der Durham University innehat. Auch die Konferenz in Jerusalem fand statt, den Briefwechsel mit den Organisatoren hat er aufbewahrt. Von Popo-Reflexen hingegen kann keine Rede sein. Von einem Homunkulus am Hintern ebenso wenig wie davon, dass McLachlan das neue Forschungsfeld der Arsology begründet hätte.

Der britische Mediziner wusste zwar schon zuvor, dass die Alternativmedizin nicht durch besonders rigorose methodische Qualität auffällt. Enttäuscht war er allerdings schon, dass der Beirat der Tagung nicht mal skeptisch wurde, als er "leichtes Saugen" am Hintern empfahl. Viel deutlicher kann man die Aufforderung "Leck mich am Allerwertesten" in einem wissenschaftlichen Text kaum unterbringen. Viel offensichtlicher kann man die Leichtgläubigkeit der Alternativmedizin nicht bloßstellen und ihre Methoden der Lächerlichkeit preisgeben.

Wenn man sich in Deutschland fragt, was manche Anhänger der Alternativmedizin so zwischen den Ohren haben und welchen Unsinn sie bereitwillig glauben, wenn er nur genug nach Ringelblume, Mond und Sternen klingt, werden erwartbare Reflexe ausgelöst. Die Heilpraktiker, Schamanen, Nadler und Kügelchendreher drehen dann auf und werden unflätig. Bezeichnungen als "bornierter Schulmediziner" und "gedungener Lobby ist der Pharmaindustrie'' gehören zu den freundlicheren Anreden. Manche Beleidigungen zielen aber auch entschieden unter die Gürtellinie, etwa die Diffamierung, ein FDP-Mitglied zu sein.

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Quelle:
SZ vom 18./19.12.2010/holl
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