Süddeutsche Zeitung

Medizin und Wahnsinn, Folge 153:Vielschlucker im ICE

Lesezeit: 2 min

Wer oft im Zug unterwegs ist, braucht ein starkes Immunsystem und robuste Vitalfunktionen. Wie wäre es mit einer Flatrate für Beruhigungsmittel, Anti-Aggressiva und Ohrenstöpsel?

Werner Bartens

Der Name ist von bestechender Ausdruckskraft. ,,Nomad Colostrum'', heißt das Mittel, für das auf jedem Platz des ICE 514 von München nach Hamburg geworben wird. Wobei ,,Mittel'' stark untertrieben ist für ,,dieses erstaunliche Super-Nahrungsmittel'', wie es in der ganzseitigen Anzeige im Blättchen ,,Ihr Reiseplan'' heißt. ,,Ihr Reiseplan'' ist übrigens die Werbebroschüre der Bahn, die wie eine Packungsbeilage gefaltet ist und in der man auf die Minute genau erfahren kann, welche Anschlusszüge leider nicht warten konnten, und wann man angekommen wäre, wenn der Zug den Zielbahnhof pünktlich erreicht hätte.

,,Nomad Colostrum'' also verleiht ,,grenzenlose Energie'', Kraft und Vitalität, unterstützt auf kolossale Weise das Immunsystem und ,,reguliert die Vitalfunktionen'' - und das natürlich ,,sicher, schnell und ohne Nebenwirkungen''. So weit, so erwartbar. Das ist die branchenübliche Marktschreierei für Luft in Tüten. Um das zu erkennen, braucht es nicht den humorlosen Hinweis, dass etwas, das selten wirkt, in der Tat selten mit Nebenwirkungen einhergeht.

Toll an ,,Nomad Colostrum'' ist etwas anderes: Bahnfahrer bekommen 50-prozentigen Preisnachlass auf die ,,1-Monatskur-Packung''. Das ist ein innovatives Geschäftsmodell: Eine Bahncard-50 für Medikamente. Das muss auf andere Mittel ausgedehnt werden. Für Vielschlucker sollten Bahn und pharmazeutische Industrie eine Bahncard-100 anbieten. Man zahlt einen Betrag und kann ein Jahr lang so viele Pillen schlucken, wie man will. In der ersten Klasse werden Infusionen auch am Platz gelegt. Für Bonuskunden gibt es einen Einkaufsgutschein in der Bahnhofsapotheke ihrer Wahl und Gratis-Aufbauspritzen am Service-Point.

Allerdings müsste die Angebotspalette für Bahn-Nomaden und andere unbehauste Mobilisten erheblich erweitert werden. Wer oft im ICE unterwegs ist, braucht nicht nur ein starkes Immunsystem und robuste Vitalfunktionen. Für Zugreisende sind tonisierende Beruhigungsmittel, Anti-Aggressiva und Hämorrhoiden-Salben von Interesse. Und Ohrenstöpsel für die Ankündigungen.

Aber liebe Bahn und liebe Nomad-Colostrum-Hersteller: Über die Bezeichnung eurer Produkte müsst ihr euch noch mal Gedanken machen, bevor weitere Rabattverträge und Tabletten-Bahncards in Aussicht gestellt werden. Nomad ist ja ganz gut als Vorname für eure mobilen Einsatz-Pillen. Aber Colostrum? Das ist die auch als Hexenmilch bezeichnete Vormilch junger Mütter in den ersten Tagen, nachdem sie geboren haben. Entsprechende Ausflüsse von Kühen sind therapeutisch umstritten. Wie die Vormilch junger Mütter gewonnen und für treue Bahnkunden zubereitet werden soll, mag man sich lieber nicht so genau vorstellen.

Zu warnen ist auch vor anderen Produkten aus Geburtsresten oder frühkindlichen Ergüssen. Nomad-Mekonium sollte man bleiben lassen. Mekonium - besser bekannt als Kindspech - ist der Stuhlgang Neugeborener. Baby-Kacke für Bahnfahrer ist keine glückliche Assoziation, die sich bei einem erstaunlichen Supermittel einstellen sollte. Ob die wissenschaftlichen Beweise für die Wirksamkeit des Mittels ausreichen, muss ebenfalls hinterfragt werden. Die Ergebnisse aus Tierversuchen lassen sich ja selten auf Menschen übertragen. Obwohl im Fall des Mekoniums die schiere Masse der tierischen Probanden beeindruckt und der naheliegende Werbeslogan betörende Strahlkraft besitzt und sich auch leicht auf andere Produkte ausweiten lässt: Denn eine Million Fliegen können nicht irren.

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SZ vom 13.11.2010/holl
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