Medizin und Wahnsinn (85):Darf ich Dich anschauen?

Am liebsten ist Medizinern die Visite ohne Patient - gemäß dem Motto: "Die Medizin wäre eine schöne Disziplin, wenn nur die Patienten nicht wären".

Werner Bartens

Sie saßen sich in der S-Bahn gegenüber und kannten sich offenbar kaum. Beide waren Anfang 20, die Fahrt zog sich hin. Die Bahn stockte. Jetzt kamen sie sich etwas näher. Das heißt, er redete und sie hörte zu.

arzt, patient; medizin und wahnsinn; istockphotos

Da liegt ja einer! Am liebsten wäre es den Ärzten, die Visite würde ohne Patienten stattfinden.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Flirten stelle ich mir anders vor, aber als vorsichtiges Anbahnungsgespräch konnte man die Begegnung durchaus gelten lassen. Die S-Bahn stand auf freier Strecke. Er schlug verbale Pfauenräder, erzählte von seinen Erfahrungen an der Uni und dass er vorher gejobbt hatte. Er redete und redete und merkte irgendwann, dass es jetzt wohl an der Zeit wäre, sie auch mal zu Wort kommen zu lassen.

Er fragte nicht, was machst Du so. Er fragte: "Hast Du Lokalisten?" Sie gab ihren Spitznamen an, mit dem sie bei dem sozialen Netzwerk angemeldet war. Bei der Online-Gemeinschaft kann man sein persönliches Profil erstellen, über seinen Dialekt, seine Haustiere oder seinen Tanzstil Auskunft geben und ein Kurzporträt im Netz hinterlassen. "Dann schaue ich Dich heute Abend mal an, wenn ich darf", entgegnete er behutsam. Er meinte nicht sie, sondern ihre Selbstdarstellung im Internet.

Das hatte etwas Intimes, vorsichtig Tastendes, wie man es sich zu Beginn einer amourösen Begegnung vorstellen kann - es ähnelte der schüchternen Erregung, mit der Hans Castorp in Thomas Manns "Zauberberg" die Röntgenthorax-Aufnahme von Madame Chauchat betrachten durfte.

Visite ohne Patient

Andererseits, zurück in der S-Bahn: Die Frau, die er sich bei den Lokalisten anschauen wollte, saß in diesem Moment vor ihm. Jetzt war der glückliche Augenblick. Jetzt konnte er sie sehen und fragen, was sie gerne tat, was sie bewegte und fühlte. Vielleicht könnte er zufällig an derselben Station aussteigen wie sie und für eine kurze Wegstrecke ihr Begleiter sein. Stattdessen wollte er ihr abends allein vor dem heimischen PC nachspüren und sie, vielmehr ihr virtuelles Pin-up, aus der Ferne betrachten.

Es dauerte eine Weile, bis mir einfiel, wo ich ein ähnliches Verhalten schon einmal beobachtet hatte. Es war die Visite am leeren Bett. Jeder, der schon mal in einer Klinik war, kennt das. Nachdem für den Chefarzt die Tür aufgerissen wird, stürmt die Schar der Ärzte ins Krankenzimmer. Ein verschüchterter Jungassistent rapportiert ein paar Details zu den Patienten, wobei seit Jahrhunderten das Wichtigste im Krankenhaus zu sein scheint, ob der Kranke Stuhlgang gehabt hat. Erst nach einer Weile bemerken die Mediziner, dass kein Patient im Bett liegt, was sie aber nicht weiter stört, im Gegenteil.

Die Maschinerie funktioniert, egal ob Patienten im Bett liegen oder nicht. Ist kein Patient da, werden die Ärzte nicht so oft unterbrochen. Die Ärzte besprechen den Fall, statten den Kranken ihren Besuch ab - nichts anderes heißt Visite - und scheren sich nicht darum, ob der Patient gerade beim Röntgen ist, auf dem Klo oder doch zufällig in seinem Bett. Es ist ein absurdes Ritual, getreu dem alten Ärztemotto: "Die Medizin wäre eine schöne Disziplin, wenn nur die Patienten nicht wären."

Die Visite am leeren Bett zeigt, dass Ärzte es nicht besonders darauf anlegen, von ihren Patienten verstanden zu werden. Ist der Kranke gerade nicht da, kann es wenigstens nicht zu Missverständnissen kommen. Die Fachsprache aus Latein, Griechisch, Englisch und Hochnäsig schützt viele Ärzte davor, verstanden zu werden. Ist kein Patient im Zimmer, garantiert das zusätzlichen Schutz.

Patienten verwässern mit ihren subjektiv empfundenen Beschwerden nur die klare Diagnose. Kaum etwas ist für Ärzte lästiger als Symptome, die nicht ins Bild passen. Deshalb sind manche Ärzte erst zufrieden, wenn sie mit sich und den Krankenakten allein sind. "Darf ich Sie heute Abend mal anschauen", fragt allerdings kaum noch ein Arzt, bevor er sich mit den Röntgenbildern seiner Patienten an den Leuchtschirm zurückzieht.

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