Medizin und Wahnsinn (89):Heilsame Fehldiagnose

Ein Engländer geht ins Krankenhaus und bekommt die schlimme Diagnose: unheilbarer Tumor. Es beginnt die schönste Zeit seines Lebens.

Werner Bartens

Patienten sind ein undankbares Volk. Sie wollen vom Arzt krankgeschrieben werden, um länger blaumachen zu können. Sie erwarten, dass ihnen das ganze Jahr über Krankengymnastik verordnet wird und sie jeden Sommer eine Kur bewilligt bekommen. Natürlich nicht in ostdeutschen Moor- und Schlackebädern oder in westdeutschen Metropolen wie Bad Sooden-Allendorf oder Bad Salzdetfurth, obwohl beide Orte an den lieblichen Flussläufen von Werra, beziehungsweise Lamme liegen.

Freiheit, Gesundheit, Entspannung, iStockphotos

Nach der schlimmen Diagnose änderte ein Engländer sein komplettes Leben - und begann, es zu genießen.

(Foto: Foto: iStockphotos)

Es muss Baden-Baden, Sylt oder wenigstens mit Blick auf den Alpenhauptkamm sein. Bekommen Patienten ein günstiges Nachahmerpräparat verschrieben, das so gut wirkt wie die teure Alternative, wollen sie es auch nicht nehmen, weil es angeblich ausgerechnet bei ihnen nicht wirkt.

Besonders undankbar verhielt sich ein heute 61-jähriger Engländer aus der Grafschaft Dorset. Er will das britische Gesundheitssystem NHS verklagen, dabei sollte er seinen Ärzten ewig dankbar sein. Er wirft den Doktores vor, dass sie ihn dazu gebracht haben, endlich das zu tun, was er immer schon wollte. Philosoph Peter Sloterdijk fordert, "Du mußt dein Leben ändern" - unser Mann aus Dorset machte das auch ohne jede Theorie.

Träume werden wahr

Der Engländer hatte seinen Job gekündigt und "seine Ersparnisse verpulvert", indem er "sein Geld mit vollen Händen ausgegeben hat", wie die Presseagentur neidvoll mitteilt. Für mehr als 20.000 Euro kaufte er ein Motorrad und ein Auto. Zudem erfüllte er sich und seiner Frau noch andere Wünsche. Seine Gattin gab ebenfalls ihre Arbeit auf, um Zeit zu haben. Kann man sich mehr wünschen, als des Lebens ganze Fülle auszukosten und lang gehegte Träume wahr werden zu lassen, statt sie auf den Sanktnimmerleinstag zu verschieben?

Zugegeben, die Methode der britischen Ärzte mag auf zarte Naturen etwas ruppig wirken. Sie hatten vor einiger Zeit die Gallenblase des Mannes untersucht und ihm daraufhin mitgeteilt, dass er an einem unheilbaren Tumor leiden würde. Als der Mann zwei Jahre später immer noch lebte, zeigten neue Untersuchungen, dass er lediglich an einem harmlosen Abszess litt. "Ich war ein gesunder Mann und hätte noch viel Zeit zum Arbeiten gehabt. Jetzt kann ich nichts mehr machen", wird der Herr aus Dorset zitiert. Das Krankenhaus entschuldigte sich für den Fehler. Die Diagnose sei damals voreilig gestellt worden, noch bevor alle Testergebnisse ausgewertet worden seien.

Fehldiagnose als Wohlfühlpaket

Es ist zwar ehrenhaft, aber nicht ehrlich, wenn Ärzte und Klinik hier Reue zeigen. Wie viel Freude, Entspannung und Lebenslust haben sie dem Mann und seiner Frau durch die angebliche Fehldiagnose vermittelt? Trifft hier nicht sogar das alte Mediziner-Motto zu, "Wer heilt, hat recht"? Wenn ein Arzt seinen Patienten ein solches Wohlfühlpaket beschert, mag er dazu auch unkonventionelle Wege zum Glück einschlagen.

Diese Ärzte haben Vorbildfunktion und sollten sich nicht entschuldigen müssen. Schließlich tun sich viele Menschen im Alltag mit ihren eigenen Fehldiagnosen äußerst schwer. Sie bleiben aus Bequemlichkeit mit dem Partner zusammen und wechseln nicht den Job, auch wenn ihre Arbeitseinstellung eine einzige Abwehrhaltung ist. Du musst dein Leben ändern - Fehlanzeige. Die Fehldiagnosen Liebe und Traumjob bleiben.

In jüngster Zeit haben böswillige Journalisten immer wieder davon berichtet, dass Ärzten viele Fehler unterlaufen, wie oft Mediziner sich irren und nicht die richtige Diagnose stellen. Man muss hinter etlichen dieser vermeintlichen Kunstfehler wohl Absicht vermuten. Hier nimmt der Arzt wieder seine lange vernachlässigte Rolle als weiser Lebensberater ein, der den Menschen hilft, den dornigen Weg zu sich selbst zu finden. So manche Fehldiagnose entpuppt sich so als Akt der Fürsorge und Humanität.

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